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“Am Ende wird alles gut”….?

Was Oscar Wilde und die Positive Psychologie zu Zukunftsperspektiven in Zeiten von Corona sagen können

“Am Ende wird alles gut – und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.”

Dieses Zitat von Oscar Wilde begleitet mich schon viele Jahre, und selten erschien es mir so passend wie jetzt.

Gerade erst wurden in Deutschland die Corona-Beschränkungen für weitere vier Wochen verlängert. In Österreich werden viele Beschränkungen wohl bis März bleiben, und die Schweiz hat nun verpflichtendes Homeoffice  angeordnet. Die Liste der Länder und Beschränkungen ließe sich lange weiterführen.

Wie geht es uns allen in dieser Zeit? Wie kommen wir mit einer an sich schon schwer einschätzbaren Situation zurecht, die sich alle paar Wochen wieder verändert? Was bedeutet das für unsere Psyche?

Ich möchte einige Aspekte unserer derzeitigen persönlichen und gesellschaftlichen Situation aus psychologischer Sicht beleuchten und hoffe, dass das den einen oder anderen entlasten kann. Denn es ist normal, dass wir die Belastung spüren, die diese Zeit der Pandemie für uns alle bedeutet. Die Situation ist belastend. Sie dauert schon lange, bald ein Jahr. Und ein Ende ist zwar allmählich in Sicht, doch wann wir es erreicht haben werden, das weiß derzeit niemand von uns, sei er Virologe, Politiker oder einfach ein betroffener Mensch.

Menschen können besser mit Belastungen umgehen, wenn sie das Ende abschätzen können

Vor Jahren las ich eine Studie, deren Quelle ich damals leider nicht notiert hatte, die mir aber derzeit immer wieder in den Sinn kommt. Darin ging es um die Frage, wie Menschen mit längeren Belastungen umgehen können, wenn sie deren Ende einschätzen können – oder eben nicht. Untersucht wurde die Frage an Soldaten, die einen Gewaltmarsch mit schwerem Gepäck absolvieren sollten: 20 Kilometer mit 20 Kilo auf dem Rücken. Gemessen wurde, wie gut (oder schlecht) die Soldaten diese Belastung meisterten. Wer hielt wie lange durch, wer erreichte das Ziel? (Anmerkung zur männlichen Sprachform: nach meiner Erinnerung nahmen an der Studie nur männliche Versuchspersonen teil.)

Eine Gruppe von Soldaten erhielt die Information, dass sie 20 Kilometer mit ihrem Gepäck marschieren mussten. Die zweite Gruppe wurde anders informiert: Ihnen wurde gesagt, sie sollten 15 Kilometer marschieren. Kurz vor diesem Ziel erfuhren sie, dass jetzt noch weitere 5 Kilometer zu bewältigen seien.

Die objektive Belastung war für alle Teilnehmer der Studie dieselbe, nämlich 20 Kilometer mit Gepäck marschieren. Natürlich waren die Gruppen auch in Bezug auf ihre körperliche Ausdauer parallelisiert worden. Was glauben Sie, in welcher Gruppe hielten die Soldaten der Belastung besser und länger stand?

Vermutlich ahnen Sie es: Aus der ersten Gruppe erreichten signifikant mehr Personen das Ziel und schafften ihre 20 Kilometer. In der zweiten Gruppe mussten etliche Personen aufgeben – und zwar zwischen 15 und 20 Kilometern. Sie konnten einfach nicht mehr. Sie hatten sich auf ein Ende bei Kilometer 15 eingestellt und die unerwartete Verlängerung kurz vor dem Erreichen des Ziels war zuviel für sie.

Eine solche Studie kann uns einen Hinweis darauf geben, wie wichtig es ist, mit welcher Zielvorstellung wir eine belastende Phase beginnen. Was verstehen wir als “Ziel” in Sachen Corona?  Wann wird Corona vorbei sein? Was bedeutet eigentlich “vorbei” ?

Heißt das für mich

  • dass meine Kinder jeden Tag zur Schule oder in den Kindergarten gehen können

  • dass ich zurück ins Büro kommen kann

  • dass ich ohne Maske einkaufen gehen kann

  • dass ich endlich meinen Geburtstag mit meinen Freunden nachfeiern darf

  • dass ich wieder reisen kann

  • dass…?

Je nachdem, wie wir uns diese innere Ziellinie vorstellen, werden wir die Entwicklungen und vor allem die verlängerten Beschränkungen unterschiedlich erleben. Wenn “vorbei” bedeutet, dass ich endlich meine Australienreise antreten kann, dann werde ich mich vermutlich auf einen Zeithorizont von 12 Monaten oder mehr einstellen. Wenn für mich “vorbei” heißt “die Schulen haben wieder offen”, dann werde ich sicher eher in Wochen als Monaten denken. Und entsprechend unterschiedlich wird es sich anfühlen, wenn jetzt verlängerte Einschränkungen von vier Wochen angekündigt werden.

Schnelles Denken und langsames Denken

Wir reagieren nicht immer rational. Unser Gehirn besteht schließlich nicht nur aus dem präfrontalen Cortex, dem Großhirn, das unsere höheren kognitiven Funktionen steuert, das rationale Denken, das Einschätzen im Sinne langfristiger Werte und Ziele, und  die Impulssteuerung und das Umgehen mit unseren Gefühlen. Unser Gehirn hat ein zweites Funktionssystem (das Daniel Kahnemann als das “schnelle Denken” bezeichnet hat), das wesentlich schneller, direkter und weniger kognitiv arbeitet. Oft wollen wir das nicht so wahrhaben, doch diese unmittelbaren emotionalen Reaktionen, die spontanen Gefühle und Impulse, die aus dem Mittelhirn gesteuert werden, sind genauso real und präsent wie das “langsame Denken” unseres Großhirns. Und sie sind es, die schließlich dazu führen, dass ein Soldat die letzten fünf Kilometer eben nicht mehr schafft, weil er sich zuvor an einem anderen Ziel orientiert hat. Hätte er von vornherein gewusst, dass er 20 Kilometer bewältigen muss, hätte er seine Kräfte anders eingeteilt.

Vielleicht denken Sie auch, es war ja auch unfair von den Forschern bzw. den Offizieren der Soldaten, ihnen 15 Kilometer anzukündigen und dann aber 20 abzuverlangen. Stimmt. Und genauso fühlt sich vielleicht an, was uns allen die Pandemie abverlangt. Es ist in Ordnung, wenn die eigenen Kräfte auch mal nicht ausreichen. Darauf, was wir hier zu bewältigen haben, konnte sich niemand ganz einstellen.

Eine Idee, die man daraus ableiten kann: Betrachten wir unsere Situation in dieser Pandemie immer mal wieder in einem größeren Zusammenhang. Gehen wir also von “20 Kilometern” aus, nicht von 15 – und wenn das Ziel schon nach 18 Kilometern erreicht sein sollte, dann freuen wir uns darüber!

Denken in Zielen und Zeiträumen

Persönlich bin ich sehr froh, dass die Politik nun in größeren Zeiträumen entscheidet. Nicht nur für zwei Wochen, sondern für die (gesetzlich in Deutschland verankerten) vier Wochen. Ich weiß noch genau, welche Entlastung es für unser Trainerteam bedeutet hat, als wir uns im Sommer 2020 entschieden hatten, “wenn wir an Pfingsten nicht wieder Seminare anbieten dürfen, dann tun wir das erst nach den Sommerferien, also 3 Monate später”. Die Wochen davor, der April und Mai 2020 waren voll quälender Ungewissheit und alle zwei Wochen wurden die Beschränkungen wieder verlängert. Unsere Entscheidung, uns einen eigenen, größeren Zeithorizont zu setzen, war für uns alle ungemein entlastend. Und als wir dann zu Pfingsten doch die Erlaubnis für Präsenzseminare bekamen, haben wir uns gefreut und sind alle mit Elan gestartet. Unser Ziel hatten wir sozusagen schon nach 16 Kilometern erreicht.

In einem Coachinggespräch würde ich fragen: Was bedeutet für Sie “Corona ist vorbei”? Was bedeutet “es wird leichter/ normaler”? Und was ändert sich, wenn Sie Ihren Zeithorizont erweitern? Betrachten Sie die vergangenen 10 Monate. Was haben Sie in dieser langen Zeit alles geschafft? Welche neuen Fähigkeiten haben Sie entwickelt? Wo sind Sie stärker geworden?

Und wo war es Ihnen einfach zu viel? Wann haben Sie gedacht “Jetzt kann ich nicht mehr”? Wie ging es dann dennoch weiter, welche Kräfte haben Sie mobilisiert, welche Unterstützung gesucht oder vielleicht auch unerwartet bekommen? Wie sind Sie in den vergangenen Monaten gewachsen?

“Alles ist gut” –  Positiv um jeden Preis?

Als Coach bin ich gewohnt, oft die Frage nach dem Guten zu stellen, das sich vielleicht aus dem Schweren entwickeln kann. “Was ist gut an Corona?” klingt nach einer paradoxen Frage, die angesichts des weltweiten Leides der Pandemie sogar zynisch verstanden werden könnte. Doch so ist sie nicht gemeint. Wir wissen inzwischen durch Forschung zum Wachstum nach Krisen und Traumata, dass Menschen auch nach schweren Belastungen wieder zu einem erfüllenden Leben zurückfinden können. Manche dieser Resilienz- und Wachstumsprozesse führen sogar zu einem tieferen Erleben von menschlicher Verbundenheit und persönlichem Sinnerleben.

Doch eines ist dabei wichtig: Keine Krise oder Belastung ist an und für sich gut. Der plötzliche Verlust eines geliebten Menschen bedeutet Leere und Trauer. Diese kann wieder gefüllt werden, sicher, das Leben kann auch “wieder gut” werden, doch der Verlust selbst wird (und soll) deshalb nie “gut” sein. Es wird niemals “gut” sein, wenn jemand so früh gehen musste.

Der Verlust des eigenen Lebensspielraums durch starke Beschränkungen in Zeiten von Corona ist auch nicht “gut”. Sinnvoll ja, das können wir kognitiv verstehen, doch die Trauer um das verlorene Jahr der Pandemie, die viele Menschen erleben mussten, die sich nicht in einer harmonischen Familie oder Partnerschaft aufgehoben fühlten, sondern gehofft hatten, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, ein Studium oder eine Ausbildung aufzunehmen, ins Ausland zu gehen, um die Welt kennenzulernen, diese Trauer hat genauso ihre Berechtigung. Es kann etwas Gutes daraus entstehen. Doch es muss nicht sofort sein, das braucht Zeit, Verarbeitung, Versöhnung und Unterstützung. Und manche Trauer bleibt länger, auch das ist normal. Nur weil Diagnosemanuale der Psychotherapeuten geändert werden (Neufassung des DSM oder ICD) und Trauer nun schon nach wenigen Monaten als diagnostizierbares Symptom bewertet werden kann, muss sie nicht krankhaft sein. Es ist in Ordnung, wenn wir in diesen Zeiten öfter traurig sind, uns belastet und hilflos fühlen. Dagegen zu kämpfen macht es nur schwerer.

Manches ist nicht gut: Corona bedeutet eine Belastung für uns alle

Psychische Belastungen waren schon vor der Pandemie die zweithäufigste Ursache für Fehlzeiten vom Arbeitsplatz. Der Grund dafür: chronischer Stress. Durch die Coronakrise hat die Belastung gesamtgesellschaftlich zugenommen. Berufstätige müssen sich im Home Office zurechtfinden, Kinder, Jugendliche und Studierende verlieren ihr gewohntes Umfeld in Kindergarten, Schule, Universität. Freunde zu treffen will wohl überlegt sein, wenn es denn überhaupt möglich ist. Weihnachten und Silvester laufen völlig anders. Und so könnte man die Liste verlängern.

Wir alle erleben mehr Stress. In einem hervorragend recherchierten Artikel formulieren verschiedene Forscher ihre dezeitige Einschätzung der gesamtgesellschaftlichen Situation:

  • “Der chronische Stress trifft eine breite Bevölkerungsschicht. Dieser ist ein wichtiger Treiber für neue psychische Störungen oder Rückfälle.”

  • “Umso länger es dauert, umso disziplinierter müssen wir sein. Und unsere Energie müssen wir uns gut einteilen.”

  • “Wir brauchen das Licht am Ende des Tunnels.”

Am Ende wird alles gut – und jetzt ist auch schon manches gut: Die Perspektive der Positiven Psychologie

In einer englischen Studie, die gerade im Journal of Positive Psychology erschienen ist, zeigte sich, dass es in Krisen helfen kann, den eigenen zeitlichen Fokus zu ändern. Statt in die Vergangenheit zu schauen und darüber zu trauern, was nicht mehr möglich ist und was wir verloren haben, helfe es mehr, den Blick in die Zukunft zu richten.

Ich möchte ergänzen: Es entlastet auch, den Blick und die Wahrnehmung auf das Jetzt zu richten. An jedem Tag gibt es kleinere Erlebnisse, die Freude bereiten. Wer den Positiven Tagesrückblick, eine klassische Intervention der Positiven Psychologie schon einmal ausprobiert hat, kennt dessen Wirkung: Wenn ich mir abends überlege, was heute schön war, dann ermögliche ich mir, das kleine und größere Positive im Tag zu sehen, das oft vom Alltagsstress und -ärger überlagert wird. Dann kommt mein Tag leichter wieder ins Gleichgewicht. (Dazu brauche ich nicht schöne Dinge an den Haaren herbeiziehen – es genügt, den eigenen Anspruch zu senken und kleine Momente als wertvoll und positiv wahrzunehmen.) Die zweite Frage im Positiven Tagesrückblick – “wie habe ich dazu beigetragen, dass ich das als schön erleben konnte” – lenkt die Aufmerksamkeit auf meinen eigenen Beitrag am Positiven. Wenn mir klar wird, dass es mir geholfen hat, den Espresso nach dem Essen in Ruhe zu genießen und nicht schon an die nächste Pflicht zu denken, dann wird mir vielleicht deutlich, wie gut mir “Monotasking” tut. Wie mich meine eigene innere Erlaubnis, durchzuatmen und gerade einmal nichts zu tun, entlasten kann.

Wenn Sie in die Zukunft schauen, überlegen Sie sich wie weit. Es hilft und entlastet, wenn Sie sich kleine, überschaubare Ziele und damit Erfolgserlebnisse ermöglichen. “Leg dir die Latte so niedrig, dass es einfacher ist, darüberzusteigen als untendrunter durchzukrabbeln” hören die Teilnehmenden in meinen Coachingausbildungen häufig von mir. Diese kleinen Erfolgserlebnisse stärken unser Erleben von Selbstwirksamkeit und das unterstützt unser Wohlbefinden. Es kann sogar vor depressiven Entwicklungen schützen.

Gleichzeitig hilft es, den Blick auch einmal ganz weit in die Zukunft zu richten: “Wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende” Wie beschreiben Sie für sich das Ende von Corona? Wann ist es “wieder gut”? Was werden Sie tun, woran werden Sie festmachen, dass diese Phase nun zu Ende ist und etwas Neues beginnen kann? Haben Sie sich schon einmal vorgestellt, wie Sie in drei, vier, fünf Jahren über die gegenwärtige Zeit sprechen werden? Wenn diese Zeit eine Erinnerung ist und sich unser Leben wieder verändert hat?

Diese Fragen können uns in der kommenden Zeit helfen. Je mehr wir miteinander darüber sprechen und unsere Zukunftsvorstellungen teilen, umso besser können wir uns gegenseitig dabei unterstzützen. Denn von unseren 20 Kilometern liegen noch einige vor uns.

Doch am Ende wird alles gut.

Sagt Oscar Wilde.

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