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Was brauchen wir jetzt?

Psychische Grundbedürfnisse in der Coronakrise

In meinem letzten Artikel Was jetzt? Die Situation in der Coronakrise aus psychologischer Sicht habe ich beschrieben, warum wir in der derzeitigen Pandemie-Situation Stress erleben, wie sich dieser körperlich und psychisch auswirkt, und vor allem, wie wir aus dem Stress heraus in eine Erholungsreaktion kommen können. Ziel des Artikels war es, Ansätze für „Erste Hilfe“ in einer völlig neuen Situation zu bieten.

Nachdem nun immer klarer wird, dass wir noch eine ganze Weile „mit Corona“ leben werden, lohnt es sich, den Blick auf das zu richten, was uns langfristig gesund hält. Denn nun geht es nicht mehr um „Erste Hilfe“, es geht buchstäblich um eine neue Art zu leben und unseren Alltag zu gestalten.

Wo stehen wir jetzt?

Bei vielen von uns hat inzwischen die sogenannte Katastrophenmüdigkeit eingesetzt (disaster fatigue). Wir reduzieren unseren Nachrichtenkonsum und lesen nicht mehr jeden Corona-Artikel. Wir haben uns mehr oder weniger daran gewöhnt, dass wir in einem anderen Alltag angekommen sind. Und trotzdem geht es Ihnen vielleicht manchmal auch so wie mir, dass in vertrauten Situationen plötzlich Tränen in die Augen steigen, weil auf einmal unmittelbar spürbar wird: „Mein Leben ist nicht mehr so, wie es war.“ Der Anlass kann scheinbar harmlos sein, zum Beispiel der Gang über den Parkplatz am Supermarkt, nachdem man die Expedition Einkaufen hinter sich gebracht hat, oder der gute Freund, den man wegen der Ausgangs­beschränkungen wochenlang nicht treffen durfte und nun „auf Abstand“ begrüßen muss – in solchen Momenten schwappt sie hoch, die emotionale Welle, die wir seit Wochen tapfer mit Verstand und Sachkenntnis in Schach zu halten versuchen.

Wir alle sind derzeit auf der Suche nach Sicherheit. Unser Alltag ist ein anderer, und vieles, das uns vertraut war und Stabilität gab, ist plötzlich nicht mehr erreichbar – oder aber so verändert, dass es fremd und ungewohnt wirkt. Viele Fragen beschäftigen uns, manchmal auch nachts, wenn wir wegen des hohen Stresspegels wieder einmal wachliegen:

  • „Wie lange wird das Ganze dauern?“
  • „Was passiert mit meinem Arbeitsplatz, mit meiner Firma?“
  • „Hält meine Beziehung das aus?“
  • „Welche Auswirkung wird diese Erfahrung auf meine Kinder haben?“
  • „Werde ich meine Freunde verlieren, wenn ich sie nicht sehen kann, und auch keine Kraft habe sie anzurufen?“

Wir suchen Sicherheit – und finden sie nicht, denn niemand kann uns alle Antworten geben, die wir jetzt bräuchten. Selbst ausgewiesene Fachleute tasten sich Schritt für Schritt voran.

 

Sicherheit ist ein Bedürfnis, das immer dann anspringt, wenn es bedroht ist. Es ist ein Defizitbedürfnis, kein Wachstumsbedürfnis (mehr über Bedürfnisse in meinem Artikel Psychische Grundbedürfnisse – und warum Maslow nie an eine Pyramide gedacht hat

Um langfristig mit einer so neuen und unklaren Situation gut umzugehen, hilft es mehr, wenn wir den Blick weg von Defizitbedürfnissen hin zu Wachstumsbedürfnissen lenken, also auf das, was unser Wohlbefinden und unsere psychische Stabilität fördern kann: auf unsere psychischen Grundbedürfnisse.

 

Die Grundbedürfnisse selbstbestimmten Lebens

In ihrer Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory, 2000, 2004) beschreiben die amerikanischen Psychologen Edward Deci und Richard Ryan drei psychische Grundbedürfnisse. Diese sind vergleichbar mit Nährstoffen; wir brauchen sie zum gesunden Leben. Psychische Grundbedürfnisse sind zentral für unsere persönliche Entwicklung und das psychische Wohlbefinden.

Grundbedürfnisse sind nicht erlernt, sie sind universelle Aspekte der menschlichen Psyche. Das bedeutet, Grundbedürfnisse sind bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden – im Gegensatz zu individuellen Bedürfnissen. (Kulturell unterschiedlich kann allerdings sein, was als Erfüllung eines Grundbedürfnisses „gilt“. In Lateinamerika wird Verbundenheit zum Beispiel auf andere Weise ausgedrückt als in Japan. Und das ist dann erlernt.)

 

Grundbedürfnis Autonomie

Bei diesem Bedürfnis geht es um das Gefühl, im Einklang mit den eigenen Werten zu handeln. Unser Grundbedürfnis nach Autonomie wird „aufgefüllt“, wenn wir selbstbestimmt und eigenverantwortlich entscheiden können. Der „Füllstand“ des Bedürfnisses sinkt rapide, wenn wir uns fremdbestimmt erleben – und das ist in Zeiten weltweiter Beschränkungen der persönlichen Freiheit durchaus brisant!

Autonomie bedeutet aber auch nicht komplette Unabhängigkeit. Menschliches Handeln geschieht immer im sozialen Kontext, erfordert Abstimmung und Kompromisse. Das gilt gerade jetzt, wenn wir in Zeiten der Pandemie eigene Bedürfnisse zurückstellen, um andere zu schützen. Solange diese Entscheidung unsere eigene bleibt und sich nicht aufgezwungen anfühlt, erleben wir Autonomie.

Was bedeutet für Sie in der derzeitigen Situation Autonomie? Was ist Ihnen wichtig? Wie können Sie Ihre Werte im Einklang mit den Werten anderen verwirklichen? Was wären dafür kleine Symbole, Handlungen, Gesten im Alltag?

 

Grundbedürfnis Wirksamkeit, Kompetenz

Wir wünschen uns, dass unser Handeln Wirkung erzeugt. Wir brauchen ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Entscheidend ist dabei gar nicht so sehr, ob die Wirkung unseres Handelns immer die erwünschte ist, sondern dass es überhaupt eine Wirkung gibt. Wenn das Grundbedürfnis nach Kompetenz in Gefahr ist, erleben wir Hilflosigkeit.

Die Corona-Regelungen können unser Gefühl von Selbstwirksamkeit ziemlich auf die Probe stellen. Beschränkungen, wie wir sie alle in den letzten Wochen erlebt haben, gab es noch nie. Auf einmal war so vieles verboten, was vorher unseren Alltag ausgemacht hatte. Vertraute Tätigkeiten, bei denen wir uns wirksam erleben – plötzlich nicht mehr erreichbar: Sport im Verein, Training im Fitnessstudio, das Ausüben eigener Hobbys und vieles mehr.

Wo können wir uns in Pandemie-Zeiten wirksam erleben, wo sich so viel verändert hat? Vielleicht haben Sie ja jetzt einige Vorhaben verwirklicht, die Sie schon lange anpacken wollten, die Wohnung renoviert, Ihre Steuererklärung fertiggestellt, den Keller aufgeräumt? Oder ging es Ihnen wie vielen anderen Menschen, für die allein die Bewältigung des veränderten Alltags eine Herausforderung bedeutete, mit Home Office, Home Schooling und ohne die vertrauten Strukturen?

Mir persönlich hat in diesem Zusammenhang ein Artikel gutgetan, den ich ziemlich am Anfang der Ausgangsbeschränkungen gefunden hatte. „Don’t make yourself a project“ – mach kein Projekt aus dir. Es genügt völlig, jetzt den Alltag einigermaßen zu bewältigen. Die eigene Messlatte für Wirksamkeit darf in diesen Zeiten neu justiert werden.

Was bedeutet für Sie Wirksamkeit? Wann und wie erleben Sie das in dieser Zeit der Veränderung? Was haben Sie angepackt, was konnten Sie ein Stück voranbringen – auch wenn es anstrengender war als sonst? Wie könnten Sie freundlicher mit Ihren eigenen Ansprüchen nach Perfektion umgehen?

Grundbedürfnis Bindung, Verbundenheit, „relatedness“

Wir alle brauchen es, dass wir uns mit anderen verbunden fühlen, vertrauensvoll im Austausch sind, und Fürsorge erleben oder geben können. Wir brauchen emotionalen Kontakt, Vertrauen und Verbindung.

Unser Grundbedürfnis nach Bindung wird „aufgefüllt“, wenn wir menschliche Wärme erleben, und uns verstanden und akzeptiert fühlen. Der „Füllstand“ des Bedürfnisses sinkt rapide, wenn wir uns isoliert und ausgegrenzt erleben.

Zunächst war in der Pandemie viel von social distancing die Rede. Inzwischen hat sich glücklicherweise herumgesprochen, dass es um physischen Abstand geht, nicht um soziale Distanz. Jede/r von uns braucht nämlich emotionale Verbindung! Und deshalb ist die große Frage, auf die wir alle eine individuelle Antwort finden müssen: Was bedeutet eigentlich für mich persönlich „Verbindung erleben“ und wie kann ich das in Zeiten der Pandemie sicherstellen?

Online-Meetings können durchaus ein Gefühl von Kontakt vermitteln, doch unsere Psyche braucht im Grunde eine andere Form von Nähe, nämlich direkten Blickkontakt. Genau der ist aber technisch nicht möglich, denn sobald wir unserem Gesprächspartner in die Augen schauen – auf unserem Bildschirm – schauen wir nicht mehr in unsere Kamera. Der Partner fühlt sich also nicht direkt angeschaut, weil wir ja ein bisschen an ihm vorbeisehen. Und wenn wir doch einmal kurzzeitig direkt in die Kamera blicken, sehen wir nicht mehr die Augen unseres Gegenübers, sondern eine Kameralinse. Deswegen ist es so schwer, auf digitalem Weg echte menschliche Nähe zu spüren. Unser Gehirn ist dafür buchstäblich nicht gemacht.

Viele von uns entdecken darum in diesen Zeiten neue Wege, um mit Menschen in Verbindung zu sein, die uns wichtig sind. Vielleicht telefonieren Sie mehr als früher oder haben auch wieder Kontakt zu Bekannten, die weiter weg wohnen. Vielleicht lernen Sie Ihre Nachbarn oder Menschen in Ihrem unmittelbaren Umfeld anders kennen. Vielleicht entdecken Sie eine neue Online-Community für sich. Vielleicht erleben Sie ein Gefühl von Solidarität gerade auch bei physischer Distanz. Und vielleicht kommen Sie mit sich selbst anders in Verbindung?

Was können Sie persönlich tun, um Ihr Grundbedürfnis nach Verbindung zu unterstützen? Wann und wie erleben Sie Nähe? Wie können Sie auch in Zeiten der Pandemie Gelegenheiten dafür schaffen – vielleicht eingeschränkte, aber trotzdem spürbare?

 

Gut mit sich umgehen

Die drei Grundbedürfnisse sind universell bei jedem Menschen vorhanden. Stellen Sie sich drei Gläser vor, jedes zu einem bestimmten Maß gefüllt. Das sind die Grundbedürfnisse. Wir brauchen keine dauerhaft „vollen Gläser“. Unsere Psyche ist durchaus in der Lage, einen niedrigeren Füllstand in einem Glas kurzzeitig mit den beiden anderen auszugleichen. Doch ein länger andauerndes Defizit bei einem oder gar mehreren Grundbedürfnissen führt über kurz oder lang zu Konsequenzen und vielleicht sogar zu Symptomen psychischer oder auch physischer Natur.

Allein das Bewusstsein um die Grundbedürfnisse kann dabei helfen, freundlicher mit sich (und anderen) umzugehen. Wenn Sie wieder einmal gefühlt mit dem Rücken an der Wand stehen, denken Sie an das Bild der drei Gläser und ihrer Füllstände. Wie könnte Ihnen das in der Situation helfen?

Verbindung, Kompetenz und Autonomie können wir ja auch in Bezug auf uns selbst betrachten:

Wie kann ich mich spüren, mir vertrauen, freundlich mit mir umgehen? Wo kann ich Wirksamkeit erleben, was mich selbst betrifft? Vielleicht bei der Tagesgestaltung, Bewegung, Ernährung, Schlaf? Und welche Werte sind mir persönlich wichtig? Wofür lohnt es sich, Einschränkungen zu akzeptieren? Was hält mich persönlich auf Kurs?

 

Ich wünsche Ihnen und uns, dass wir in diesem Sinne gut mit uns umgehen. Dann können wir die Veränderungen besser tragen, auch langfristig.

Daniela Blickhan

 

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