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Was jetzt?

Die Situation in der Coronakrise aus psychologischer Sicht

Stress ist eine natürliche menschliche Reaktion, wenn wir eine Anforderung noch nicht einschätzen können, oder fürchten, sie nicht bewältigen zu können. Unsere derzeitige Situation in der Coronakrise eine Woche nach der Einführung bundesweiter Ausgangs- und Kontakteinschränkungen ist genau das: eine Anforderung, die nicht einschätzbar ist, und von der wir noch nicht genau wissen, wie wir damit umgehen können. Und deshalb erleben wir alle seit Tagen (oder Wochen) Stress.

In diesem Artikel möchte ich aus psychologischer Sicht beleuchten, was gerade in und mit uns passiert, und Wege aufzeigen, wie wir lernen können, damit umzugehen. Denn diese belastende Situation wird uns vermutlich noch eine ganze Zeit beschäftigen und das Virus wird nicht in wenigen Wochen verschwunden sein.

Fortsetzung: Daniela Blickhan: Was brauchen wir jetzt? Psychische Grundbedürfnisse in Zeiten von Corona

Was jetzt? Die Situation in der Coronakrise aus psychologischer Sicht

Dr. Daniela Blickhan

Stress ist eine natürliche menschliche Reaktion, wenn wir eine Anforderung noch nicht einschätzen können, oder fürchten, sie nicht bewältigen zu können. Unsere derzeitige Situation in der Coronakrise eine Woche nach der Einführung bundesweiter Ausgangs- und Kontakteinschränkungen ist genau das: eine Anforderung, die nicht einschätzbar ist, und von der wir noch nicht genau wissen, wie wir damit umgehen können. Und deshalb erleben wir alle seit Tagen (oder Wochen) Stress.

In diesem Artikel möchte ich aus psychologischer Sicht beleuchten, was gerade in und mit uns passiert, und Wege aufzeigen, wie wir lernen können, damit umzugehen. Denn diese belastende Situation wird uns vermutlich noch eine ganze Zeit beschäftigen und das Virus wird nicht in wenigen Wochen verschwunden sein.

Wie wird Stress ausgelöst?

Folgende Faktoren sind entscheidend für die Intensität einer Stressreaktion: Wie unerwartet kommt eine Situation, wie gefährlich scheint sie und wie schätzen wir unsere eigenen Fähigkeiten ein, um damit gut umgehen zu können? In der Coronakrise kommen alle drei Aspekte zusammen und verstärken sich auch noch gegenseitig:

  • Trotz wochenlanger medialer Berichterstattung erscheint uns das, was passiert, unerwartet. China schien lange Zeit für die meisten Menschen hierzulande sehr weit weg, und dass es in Europa so weitreichende Ausgangssperren und Kontaktverbote geben würde – undenkbar!
  • Die Situation ist gefährlich. Täglich steigt die Zahl der Infizierten und Todesfälle; der drohende Zusammenbruch der Gesundheitssysteme wird als Begründung angeführt, um massive Maßnahmen einzuleiten, und viele von uns kennen inzwischen Fallgeschichten aus dem eigenen Familien-, Kollegen- oder Freundeskreis. Das Virus ist unsichtbar und kann bisher von der Medizin noch nicht verlässlich bekämpft werden. Das macht uns Angst.
  • Wir wissen nicht, wie wir mit der Situation umgehen können. Unser vertrauter Alltag wirkt plötzlich fremd: neue Regeln beim Einkaufen, geschlossene Geschäfte, keine gemeinsamen Freizeitaktivitäten, Home Office, Kontakt nur noch mit den Menschen, mit denen man zusammenwohnt…wir müssen uns in unserem eigenen Alltag völlig neu zurechtfinden und können oft nicht einmal mehr auf Gewohnheiten zurückgreifen, die uns sonst Entlastung, Halt oder Entspannung ermöglicht haben.

Was passiert bei Stress im Körper?

In einer akuten Stressreaktion löst das Erleben von Angst oder Bedrohung eine Reaktion im Mittelhirn aus, die Botenstoffe ausschüttet, die wiederum dafür sorgen, dass in der Nebenniere Stresshormone gebildet werden (Cortisol, Adrenalin, Noradrenalin). Dadurch wird unser Körper in Alarmbereitschaft versetzt: Puls und Blutdruck steigen, die Pupillen verengen sich, wir schwitzen. Die Muskeln bekommen mehr Energiezufuhr, die Verdauungs- und Sexualorgane weniger. Der Körper macht sich reaktionsbereit, um mit den archaischen Reaktionen fight or flight (Kampf oder Flucht) zu reagieren. Dann werden wir aktiv, entweder in dem wir den buchstäblichen Stier bei den Hörnern packen oder vor ihm davonlaufen. Beides hilft beim Verstoffwechseln der Stresshormone. Und wenn wir dann den Stressauslöser entweder bekämpft haben oder weit genug von ihm weggelaufen sind, dann kann auch eine Erholungsreaktion einsetzen.

Vor dem Coronavirus und unserer veränderten Lebenssituation können wir aber nicht davonlaufen. Und wir können sie ebenso wenig bekämpfen. Kampf oder Flucht stehen uns also nicht zur Verfügung. Was dann passiert, kennen viele Menschen in diesen Tagen aus eigener Erfahrung: Zunächst pendelt man zwischen Kampf und Flucht hin und her. „Das muss doch zu lösen sein, jetzt krempeln wir mal die Ärmel auf und packen das Krisenmanagement an.“ ‑ „Ich würde mir am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und nichts mehr davon hören. Das soll vorbei sein!“ ‑ „Nein, ich informiere mich weiterhin möglichst genau über die aktuellen Updates, denn ich will ganz genau wissen, womit ich es hier zu tun habe.“ ‑ „Ich will keine Nachrichten mehr lesen…“ Und so weiter, und so weiter…. Früher oder später kommt es jedoch, weil wir dem Stressauslöser weder mit Kampf noch mit Flucht beikommen können, zu einer dritten, dauerhaften Reaktion: dem Einfrieren bzw. Totstellen (freeze).

Bei andauerndem Stress, so wie wir ihn derzeit erleben, bleibt der Pegel an Stresshormonen im Blut dauerhaft hoch und verhindert eine Erholungs- bzw. Entspannungsreaktion. Das kann körperliche und psychische Auswirkungen haben, z.B. Störungen beim Schlaf oder Appetit, Konzentrationsschwäche, Zerstreutheit, Fahrigkeit, Gereiztheit oder anderer psychischer Symptome.

Es ist nicht nur Stress

In einer Situation, in der sich unser Alltag plötzlich auf so gravierende Weise verändert hat, erleben wir mehr als nur Stress. Vieles, was uns bisher als selbstverständlich schien, die Eckpfeiler unseres Alltags, stehen uns jetzt auf einmal nicht mehr zur Verfügung. Unsere Kollegen sehen wir nur noch per Video, die Gespräche in der Kaffeeküche gibt es nicht mehr. Die Kinder sind den ganzen Tag zuhause, fragen uns, warum sie ihre Spielkameraden nicht sehen dürfen, und wir sollen plötzlich Unterricht mit ihnen machen. Wir dürfen nicht mal eben Freunde treffen, weder zuhause noch oder in einem Restaurant. Sport, der uns sonst so gut getan hat, um Stress abzubauen, geht nur noch allein. Es gäbe noch unzählige weitere Beispiele dafür, was uns nun nicht mehr zur Verfügung steht, obwohl es doch eben noch alles da war.

Auf Verlust reagieren wir mit Trauer, Ärger oder Wut (…fight…). Wenn dann klarer wird, dass dieser Verlust nicht zu verhindern ist, spüren wir Traurigkeit, Unsicherheit und Angst, denn wir wissen ja auch nicht, wie lange das so bleiben wird. Wir suchen Orientierung und hören doch nur immer wieder, dass noch niemand weiß, wie es mit den Einschränkungen weitergehen wird. Vielleicht muss sich unser Leben ja sogar dauerhaft verändern?

Gefühle von Trauer und Angst in Verbindung mit dem Nicht-Weglaufen-oder-Kämpfen-können (freeze) können sich gegenseitig verstärken. Das Resultat kann sich körperlich anfühlen, als wenn man in einer zähflüssigen Masse festhängt. Jede Bewegung kostet ungleich mehr Energie als sonst und man fühlt sich kraftlos, innerlich leer und erschöpft ‑ so als ob eine Bleidecke über einem liegen würde. Das sind Symptome, die man auch bei depressiven Verstimmungen findet, und Psychiater warnen bereits jetzt davor, dass die soziale Distanz, die wir jetzt einhalten müssen, zu einer Zunahme von Depressionen und Angsterkrankungen führen kann. Wichtig ist zu wissen: Dass wir solche Symptome derzeit immer mal wieder bei uns erleben, ist eine normale psychische Reaktion, keine Befindlichkeitsstörung. Es ist völlig normal, auf einen Verlust mit Trauer zu reagieren und auf eine unklare Bedrohung mit Angst.

Umgehen mit der Traurigkeit und Angst

Wenn wir Traurigkeit und Angst zu verdrängen versuchen, dann erscheinen sie oft paradoxerweise stärker. Die bessere Strategie, um mit Gefühlen umzugehen, ist das Benennen. „Ich bin traurig, weil sich alles so anders anfühlt. Ich vermisse meine Freunde, liebgewonnene Gewohnheiten, meinen Alltag. Es macht mir Angst, weil ich nicht weiß, wie lange das noch dauern wird und was noch kommt.“ Dieses Versprachlichen macht aus einem diffusen unangenehmen Erleben ein fassbares Gefühl. Und damit können wir leichter und konstruktiver umgehen. Der Harvard-Psychiater Daniel Siegel bietet dafür die einprägsame Formulierung „name it to tame it“ an – benenne es, um es zu zähmen.

Sobald wir ein Gefühl in Worte fassen, sinkt die starke Aktivität im Mittelhirn (der „Alarm“ in der Amygdala). Gleichzeitig erhöht sich die Aktivität im Großhirn (präfrontaler Cortex). Dadurch verändert sich unser psychisches Erleben: Wir werden ruhiger und können wieder klarer denken. In welcher Form dieses „Labeling“ – umgangssprachlich ausgedrückt „Verwörtern“ – stattfindet, kann ganz unterschiedlich sein. Wir können das Gefühl benennen („wütend“, „ängstlich“, „aufgeregt“) oder es mit einer Metapher beschreiben („Ich fühle mich wie ein Boot, das von seinem Ankerplatz losgerissen wurde und jetzt ohne Kurs auf See treibt“) oder auch mit einem Symbol („wie ein großer roter Feuerball“). Schon die konkrete Benennung eines Gefühls erhöht die Aktivität im präfrontalen Cortex und senkt den „Alarm“. Je mehr abstrakte Elemente dabei miteinbezogen werden – wie zum Beispiel bei einer detailreichen Metapher oder einem Symbol – desto größer der Effekt.

Die Versprachlichung hat noch weiteren Einfluss auf die psychische Wirkung. Es macht nämlich einen entscheidenden Unterschied, ob wir denken „ich bin mein Gefühl“ oder „ich habe ein Gefühl“. Wenn ich ein Gefühl bin, ist die Gefahr deutlich größer, dass ich mich davon vereinnahmt, bestimmt und vielleicht sogar überwältigt fühle. Wenn ich dagegen ein Gefühl habe und das so benenne, dann kann ich das Gefühl „wie ein Objekt“ betrachten und beschreiben. Ich kann das Gefühl sozusagen aus mir herausholen, und allein dadurch erhöht sich meine Handlungsfähigkeit.

Was uns jetzt hilft: Calm & Connect

Unser Gehirn und unser Körper kennen nicht nur die Stressreaktion mit fight, flight und freeze, sondern auch das Gegenmittel dazu. Das lautet calm & connect, sich beruhigen und in Verbindung gehen. Dieses Programm ist ebenso fest in uns verankert wie die Stressreaktion, nur hat es leider weniger mächtige Auslöser. Das bedeutet: Damit die Reaktion calm & connect anspringt, braucht unser Gehirn ein wenig Unterstützung. Und je öfter es diese bekommt, desto schneller kommen wir in die Entspannungsreaktion. Für beide Prozesse können wir konkrete Strategien nutzen, die uns auch jetzt zur Verfügung stehen.

Calm: sich beruhigen

Welche Möglichkeiten kennen Sie, um sich zu beruhigen? Überlegen Sie kurz, wie Sie das in der Vergangenheit gemacht haben. Haben Sie ihre Laufschuhe herausgeholt, einen flotten Spaziergang gemacht oder sich anderweitig körperlich betätigt? Oder haben Sie auf die beruhigende Wirkung einer heißen Dusche, eines Vollbads oder einer schnurrenden Katze gesetzt? Beruhigen Sie sich leichter, wenn Sie alleine sind, oder im Gespräch mit einem lieben Menschen?

Schreiben Sie mindestens zehn verschiedenen Möglichkeiten auf, wie Sie sich körperlich, geistig oder psychisch beruhigen können. Und dann überlegen Sie, welche davon jetzt in Ihr Leben passen und umsetzbar sind.

Connect: in Verbindung gehen

Verbindung muss nicht physisch sein. Wir alle sind aufgefordert, körperliche Distanz zu wahren, doch das bedeutet nicht den Verzicht auf menschliche Nähe! (vgl. Physische Distanz-menschlicher Kontakt!). Verbindung können wir auf unterschiedliche Weise erleben:

Verbindung mit uns selbst

Bei uns selbst ankommen, uns wieder körperlich spüren, das geht deutlich leichter, wenn wir ruhiger geworden sind. Deshalb ist calm der erste Schritt, connect der zweite. Wie können Sie mit sich in Verbindung sein? Für manche von uns geht das auf körperliche Weise, durch Bewegung, ein warmes Bad, Entspannungsübungen. Andere finden leichter Zugang zu sich auf geistige Weise, zum Beispiel beim Schreiben, in einer Meditation oder über Musik. Egal auf welchem Weg, geben Sie sich Gelegenheit, wieder bei sich anzukommen.

Verbindung mit der Natur

Gerade jetzt im Frühling kommen wir in direkten Kontakt mit der Natur. Wir hören wieder Vögel zwitschern, sehen erste Blumen und beginnendes Grün und spüren wärmende Sonnenstrahlen. Viele von uns freuen sich jetzt umso mehr über die Möglichkeit eines Spaziergangs und müssen ihn zwangsläufig alleine machen. Nutzen Sie die Gelegenheit, um dabei in Verbindung mit der Natur zu kommen. Betrachten Sie Ihre Umgebung mit offenen Augen und Ohren. Und freuen Sie sich über das Schöne, was Ihnen auffällt. Die Positive Psychologie kennt das unter dem Namen Genussspaziergang oder Pleasure Walk. Diese Intervention fördert positive Emotionen und steigert das Wohlbefinden.

Verbindung mit anderen Menschen

Gerade in Zeiten physischer Distanz: Finden Sie andere Wege, um Menschen nahe zu sein. Wenn wollten Sie schon lange wieder einmal anrufen? Nehmen Sie sich Zeit dafür. Oder schreiben Sie eine Nachricht, vielleicht sogar einen Brief. Wie wir uns plötzlich freuen, wenn wir beim Spaziergang oder Einkaufen bekannte Gesichter sehen! Lassen Sie diesen kurzen Moment der Nähe zu – ein Lächeln geht auch aus zwei Metern körperlicher Distanz. Vielleicht auch ein kurzes Gespräch. 

In diesen veränderten Zeiten gut mit uns umgehen

Wir alle brauchen jetzt einen langen Atem, Gelassenheit und Zuversicht. Dazu ist es entscheidend, dass wir immer wieder aus der ‑ nur allzu verständlichen ‑ Stressreaktion herauskommen und die fight – flight -freeze-Muster stoppen. Stattdessen brauchen wir immer wieder Möglichkeiten, um uns zu beruhigen und Verbindung zu spüren: calm & connect. Eine wichtige Erkenntnis der Wissenschaft: Es hilft langfristig mehr, immer wieder kleine Momente von Ruhe und Verbundenheit zu ermöglichen als die „große Dosis“ anzustreben. Unser Gehirn lernt durch Wiederholung, und wenn wir ihm jetzt immer wieder Möglichkeiten anbieten, um aus der Stress-Spur auf die Beruhigungs-Spur zu wechseln, dann wird das mehr und mehr zur Gewohnheit.

Und solche positiven Gewohnheiten brauchen wir in diesen Zeiten alle!

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns alles Gute.

Daniela Blickhan

28.03.2020

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