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Ringen um die eigene Aufmerksamkeit: AD(H)S

Das Spektrum der Neurodivergenz

„ADHS – ist das nicht eine Diagnose für Kinder, die nicht stillsitzen können? Bestimmt ist da in der Erziehung auch so einiges schiefgelaufen. Bloß gut, dass sich das auswächst.“

Diese Sätze bringen auf den Punkt, was man vor etwa 30 Jahren – also vor einer Generation – über Aufmerksamkeitsstörungen dachte. Und jeder einzelne davon ist aus heutiger Sicht korrekturbedürftig:

  • ADHS und ADS betrifft nicht nur Kinder, sondern auch eine große Anzahl an Erwachsenen.
  • Die Symptomatik wächst sich meistens nicht aus.
  • ADS (ohne das H) erscheint nach außen unauffälliger, ist für die Betroffenen aber innerlich ein dauernder Kampf.
  • Mädchen können ihre Symptome besser verstecken, passen sich an, leiden aber deshalb nicht weniger – eher mehr.
  • ADHS und ADS haben genetisch bedingte Ursachen, die sich in einer veränderten Hirnchemie äußern. Botenstoffe werden anders verstoffwechselt. Das hat erst einmal nichts mit Erziehung zu tun – ebenso wenig wie z.B. bei Diabetes.

Über Aufmerksamkeitsstörungen sprechen Betroffene und Angehörige heute deutlich offener und transparenter. Da auch hier die Diagnose- und Therapieplätze sehr rar sind, bildet sich eine Selbsthilfe-Community, die sich intensiv in den sozialen Medien austauscht. Das ist erst einmal gut, denn immer wenn ein Mensch, der bis dahin alleine unter einer für ihn unverständlichen Symptomatik gelitten hat, dafür eine Erklärung bekommt, bringt das Entlastung. Das Bewusstsein, „damit“ nicht alleine zu sein, weil es vielen anderen auch so geht, hilft zusätzlich, mit den eigenen Gefühlen, der Selbstabwertung und Hilflosigkeit besser umgehen zu können.

Wie fühlt sich ein Mensch mit ADS oder ADHS?

Wenn man “anders” ist als die Mehrheit, bekommt man das sehr schnell mit. Man merkt es selbst und bekommt es immer wieder von außen gespiegelt – schon als Kind und später als Erwachsener. Je nachdem, in welchen Aspekten man anders ist, gibt es verschiedene typische Standard-Vorwürfe, Empfehlungen und Ratschläge.

Menschen mit ADHS hören immer wieder, sie sollten nicht so sein, wie sie sind:

  • sie sollten anders denken, fühlen und handeln.
  • sie sollten besser aufpassen, sich “benehmen”, sich konzentrieren
  • Sie sollten sich nicht so schnell über Kleinigkeiten aufregen, sondern ruhig bleiben.

Das tut ziemlich weh, denn die Betroffenen bemühen sich ja schon und geben ihr Bestes. Was sollen sie noch anders machen? Die Ratlosigkeit darüber führt zu zusätzlichem Stress.

Betroffene können nur schwer loslassen, abschalten und entspannen. Ihr Gehirn ist ständig auf Trab, auch wenn sie versuchen, in den Schlaf zu finden. Als Folge fühlen sie sich tagsüber oft ständig müde.

Die häufigste und schlimmste Kritik für AD(H)S-Betroffene lautet: “Streng dich doch mal mehr an. Wenn du dich wirklich bemühen würdest, dann könntest du es auch.” Diese Aufforderung hören Kinder und Erwachsene mit ADHS immer und immer wieder – und sie hilft kein bisschen, sondern tut noch mehr weh.

Warum?

Menschen mit ADHS strengen sich unglaublich an, von morgens bis abends, immer und immer wieder. Es sieht von außen für andere nur leider nicht so aus, weil es kein entsprechendes Ergebnis vorzuweisen gibt.

Die Anstrengung besteht darin, auf das „Normalniveau“ zu kommen, also dorthin, wo andere, neurotypische Menschen bereits sind. Dieses „normal“ ist dann aber nicht stabil, sondern eher so, als würde die Person auf einem Wackelbrett stehen. Stetig müssen Aufmerksamkeit und eigene Handlungen neu austariert werden.  Ob beim Zuhören im Unterricht oder bei den Hausaufgaben, bei der Arbeit beim Erledigen von Aufgaben und Einhalten von Terminen oder in der Partnerschaft bei der Organisation des Alltags – ADHS-Betroffene geben ihr Bestes.

Und wie geht es einem Menschen, der bereits mit aller Kraft alles Mögliche versucht und diese Anstrengung dann abgesprochen bekommt, weil die Umwelt die innere Anstrengung nicht sieht, nur das mangelhafte Ergebnis?? 

Wie müssen wir umdenken über ADHS und ADS?

Das Wichtigste ist es anzuerkennen, dass Menschen mit ADHS nicht einfach “faul” sind oder sich halt nur nicht genug anstrengen. Nein, Betroffene kämpfen  täglich mit inneren und äußeren Herausforderungen, die für Außenstehende oft unsichtbar bleiben.

Statt als „neurotypischer Mensch“ vorschnelle Schlüsse über die Disziplin oder Persönlichkeit des Gegenübers zu ziehen, ist es zentral, Empathie und Verständnis für die individuellen Erfahrungen anzubieten.

Die Welt fühlt sich für Menschen mit ADHS und ADS anders an als für Menschen mit einem neurotypischen Gehirn – und das 24 Stunden am Tag. Die Symptome verstärken sich übrigens häufig in den Wechseljahren.

Was wissen wir heute über ADHS und ADS?

Ein großer Fortschritt ist, dass wir anfangen über das Thema zu sprechen. Natürlich kann man das dann als „social media bubble“ abtun, doch es erfüllt eben auch  eine wichtige Funktion: Betroffene fühlen sich nicht mehr allein und „falsch“, sondern beginnen zu verstehen, warum ihnen selbst so schwer fällt, was anderen leicht von der Hand geht – obwohl sie es doch mit aller Kraft wollen.

Anschaulich erklärt das Eckart von Hirschhausen in seinem ARD-Beitrag über ADHS. Die Reportage wurde im Herbst 2023 gesendet und ist über die ARD Mediathek abrufbar. Ich empfehle diese Reportage!

Sie wird mit diesen Worten angekündigt

„Die Aufmerksamkeitsstörung ADHS bekommt gerade viel Aufmerksamkeit. In den sozialen Medien wimmelt es vor Selbstoffenbarungen – auch von Prominenten. Modeerscheinung oder ein echtes Problem?

Eckart von Hirschhausen fragt in dieser Reportage:

  • Wie leben Betroffene mit der Aufmerksamkeitsstörung und was hilft ihnen wirklich?
  • Werden zu viele Medikamente verschrieben?
  • Zeigt sich ADHS bei Mädchen anders als bei Jungen?
  • Ist ADHS erblich?
  • Und vor allem: Wie oft leiden Erwachsene, ohne von ihrer Störung zu wissen?“

Was nützt im Umgang mit ADHS? 

Ein zentraler Motor für psychische Gesundheit ist Selbstwirksamkeit. Und ihr Gegenstück, die längerfristig erlebte Hilflosigkeit, ist ein Kernsymptom verschiedenster psychischer Störungen.

Hier gilt es anzusetzen und Betroffene zu unterstützen, dass sie Wege finden, wie sie wieder Wirksamkeit erfahren können. Das können (und müssen) anfangs ganz kleine Dinge sein: Eine Matheaufgabe rechnen und dabei sitzenbleiben, eine Email verfassen, und dabei fokussiert bleiben, drei verschiedene „muss ich mir merken“-Zettel zu einem zusammenfassen. Für Außenstehende erscheint das selbstverständlich und einfach, doch für Betroffene ist es das eben genau nicht.

Die heiße Herdplatte – So fühlt sich AD(H)S an

Eine Therapeutin erzählte mir eine Metapher einer  erwachsenen Klientin mit ADS:

„Stell dir vor, du stehst vor einer heißen Herdplatte und jemand sagt dir, fass da drauf. Du spürst aber ein extrem starkes inneres Widerstreben, die Hand auf die Herdplatte zu legen. Es geht einfach nicht. – Und genauso fühlt sich das an, wenn ich an eine Aufgabe drangehen möchte. Ich sage mir „fang jetzt an“, doch es geht einfach nicht.“

Diese Metapher hat mir das innere Erleben der Betroffenen deutlicher gemacht als es Diagnosemanuale können (…und ich unterrichte das Thema in unserem Modul der Coachingausbildung „Psychopathologie für Coaches“).

Also, Selbstwirksamkeit! Und zwar in kleinen, spürbaren Portionen.

Was dabei hilft – aus Sicht der Positiven Psychologie – ist der Fokus auf die eigenen Stärken. Was kann der Mensch besonders gut? Wo erlebt er Flow, vergisst die Zeit und geht völlig auf im Tun? Menschen mit AD(H)S können sich übrigens extrem gut fokussieren, wenn es um das richtige Thema und die richtige Anforderung geht. Man nennt das übrigens Hyperfokus.

Die Positive Psychologie bietet noch viele weitere Ansatzpunkte, doch das ist dann Stoff für einen weiteren Artikel.

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