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Der Weisheit letzter Schluss?

Was wir aus der Weisheitsforschung in diesen zweiten Corona-Herbst mitnehmen können

In diesem Sommer konnten viele Menschen wieder aufatmen. Warme Temperaturen ermöglichten uns viel Zeit im Freien oder zumindest bei offenen Fenstern. Für viele waren erstmals wieder ein paar Urlaubstage möglich. Sinkende Inzidenzen und steigende Impfquoten signalisierten Entspannung und selbst die Abstandsregeln fühlten sich in vielen Kontexten schon ein Stück gewohnter an. Das Leben, so wie wir es kannten, schien wieder näher zu rücken und greifbar zu werden.

Nun stehen wir an der Schwelle zum Herbst, der nach Meinung vieler die vierte Welle bringen wird. Wie können wir mit Zuversicht und Gelassenheit in diese nächste Phase gehen? Dafür kann uns die Forschung zum Thema  Weisheit Anregungen geben.

Für Weisheit braucht man nicht alt zu sein

Judith Glück, Psychologieprofessorin und Weisheitsforscherin,  nennt Weisheit „Expertenwissen über die Dinge des Lebens“. Sie hat unzählige Menschen befragt, was weise Personen auszeichnet, hat sich deren Verhalten, Einstellung und Reaktionsweisen beschreiben lassen und konnte daraus schließlich fünf zentrale Aspekte der Weisheit ableiten.

Das Faszinierende daran: diese Eigenschaften kann man lernen. Manchen Menschen verfügen von Natur aus (oder aufgrund ihrer Lebenserfahrungen) über ein größeres Reservoir davon, doch weiterentwickeln können wir uns in dieser Hinsicht alle. Und das kann uns gerade jetzt Mut machen und Perspektiven öffnen.

Die fünf Seiten der Weisheit

„Ein weiser Mensch durchschaut komplexe Zusammenhänge, übt sich in Selbstreflexion, bleibt auch in schwierigen Situationen freundlich und konfrontiert Ideale mit den Härten des Alltags“, so fasst es Deutschlandfunk Kultur in der Rezension von Judith Glücks Buch Weisheit – Die 5 Prinzipien des gelingenden Lebens zusammen.

Schauen wir uns die fünf zentralen Aspekte der Weisheit genauer an, zunächst um sie zu verstehen, und im zweiten Schritt um daraus Anregungen für unser Leben zu holen.

  1. Offen sein für Neues, seien es eigene Erfahrungen oder Standpunkte anderer Menschen

  2. Gut mit den eigenen Gefühlen umgehen

  3. Sich in andere hineinversetzen können

  4. Komplexe Zusammenhänge verstehen wollen

  5. Akzeptieren, dass unser eigener Einfluss begrenzt ist

Diese Aspekte von Weisheit sind durch empirische Forschung gestützt und vor allem sind sie entwickelbar. Auch wenn Psycholog*innen gerne von „Persönlichkeitseigenschaften“ sprechen, so ist doch gesichert, dass jede*r von uns in Bezug auf diese Aspekte fähig ist sich weiterzuentwickeln. Dafür braucht es nicht unbedingt einen Coach, denn schon kleine Situationen im Alltag können uns als Trainingsfeld dienen. Wichtig dabei ist einfach nur damit anzufangen. Denn wie im sportlichen Training auch besteht Veränbderung aus vielen, vielen kleinen Schritten.

1. Offen sein für Neues, seien es eigene Erfahrungen oder Standpunkte anderer Menschen

Unser Hirn liebt Erklärungen. Und hat es erst einmal eine passende Erklärung für eine Situation oder Reaktion gefunden, dann bleibt es gerne dabei, denn das spart Energie. Und da unser Gehirn im Verhältnis zu seiner Größe bekanntlich sehr, sehr viel Energie verbraucht, ist Energiesparen ein wichtiges Prinzip bei der Verabeitung von Reizen. Deshalb bleiben wir gerne bei unserer Meinung, sobald wir sie einmal gefasst haben, sei es nun die Meinung über andere Menschen, die Welt oder uns selbst.

Offenheit bedeutet genau das Gegenteil, nämlich nach neuen, anderen, ungewohnten Erfahrungen und Erklärungen zu suchen. Offenheit lässt uns den bekannten Pfad verlassen und einen neuen einschlagen. Statt zu denken „Die Frage kann ich mir sparen, denn ich weiß ohnehin, wie die Antwort ausfallen wird“, frage ich dennoch – und lasse mich überraschen, ob ich einen neuen Aspekt in der Antwort entdecke. Statt zu glauben, ich kenne einen Menschen schon, mache ich mir Goerge Bernard Shaws Motto zu eigen:

Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedesmal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie paßten auch heute noch.

Offenheit können wir trainieren, indem wir uns Kinder zum Vorbild nehmen, ihre Neugier und ihre Fragen im Alter zwischen 3 und 5 Jahren. „Warum ist das so?“ „Wie geht das?“ „Wie machst du das?“ „Geht das auch anders?“ Judith Glück empfiehlt, sich Mesnchen auszusuchen, die einem „eigentlich eher fern stehen“ oder die man vielleicht auch nicht so mag. Und dann einfach mal Interesse zeigen, offen und neugierig auf sie zuzugehen, so wie ein Forscher. „Jedesmal wenn Sie durch diese Vorgangsweise etwas Neues, Unerwartetes über jemanden herausfinden, machen Sie einen Schritt in die Richtung, generell weniger fixe Vorstellungen von Menschen zu haben.“ (Glück, S. 66)

Gerade in diesen Wochen gibt es so viel herauszufinden über Menschen, mit denen wir im Kontakt sind. Andere nicht in eine Schublade zu stecken (siehe Artikel Persönlichkeitstests und ihre Grenzen), sondern durch Offenheit sowohl den Kontakt und die Beziehung zu diesem Menschen zu bereichern als auch die eigene Weisheit zu üben, das ist ein möglicher doppelter Gewinn. Alles was es dazu braucht: Einfach mal anfangen und hinsehen,  hinhören oder fragen.

2. Gut mit den eigenen Gefühlen umgehen

Allein über dieses Thema ließe sich ein eigener Artikel schreiben (oder ein Buch). Um es kurz zu halten, will ich hier die Begriffe Emotionsdifferenzierung und Emotionsregulation in den Mittelpunkt stellen. Denken Sie einmal an die letzten zwei Stunden zurück und schreiben Sie alle Gefühle auf, die Sie in diesem zeitraum hatten. (Und lesen Sie erst dann weiter…)

In einem Führungskräfteseminar lag die Anzahl der notierten Gefühle zwischen 2 und 10. Die meisten Teilnehmenden hatten zwischen 5 und 8 Gefühle aufgeschrieben, eine Person nur zwei. Dass andere aus der Gruppe fünfmal soviele Gefühle wahrgenommen hatten, überraschte sie doch sehr. Welche beiden Gefühle sie aufgeschrieben habe? „Gut und schlecht“. – Auch wenn es natürlich legitim ist, die eigenen Gefühle so zu sortieren (es spart zunächst mentale Energie, siehe oben), so führt es jedoch nicht zur Zunahme von Weisheit. Weise Menschen können nämlich die Vielfalt der eigenen Gefühle genauer und in Echtzeit wahrnehmen. Ihre Wahrnehmung ist feiner und sie haben auch mehr Begriffe für das, was sie wahrnehmen. Und – das ist das wesentliche – sie können ihre Gefühle betrachten und lassen sich nicht so schnell von einem einzelnen Gefühl vereinnahmen. Das ist ja die große Befürchtung vieler: „Wenn ich ein Gefühl so genau wahrnehme, dann überflutet es mich“. Das Gegenteil ist der Fall, wenn man sich die Einstellung zu eigen macht „Ich habe meine Gefühle – nicht: ich bin meine Gefühle“. Etwas das ich habe, kann ich betrachten, näher holen, weiter weg bringen, damit umgehen. Und damit sind wir dann auch schon bei der Emotionsregulation, dem Umgehen mit den eigenen Gefühlen.

„Menschen, die aufmerksam dafür sind, wie es ihnen in bestimmten Situationen geht, können einerseits viel über sich selbst lernen und andererseits ihr Leben so einrichten, dass es möglichst im Einklang mit ihren Bedürfnissen ist.“ (S. 104) Und dafür gibt es gute und lernbare Strategien (die z.B. im Coaching trainiert werden können), wie es uns in schwierigen Momenten gelingen kann, innerlich auf Abstand zu gehen, um eine Situation vollständiger wahrzunehmen und damit angemessener wieder „einzusteigen“ und zu reagieren.

„Weisheit entwickelt sich vor allem durch die gedankliche Auseinandersetzung mit Gefühlen – sei es während einer schwierigen Zeit oder später im Rückblick.“ (S. 104) Dieser Satz passt genau in unsere aktuelle Zeit, denn wir alle haben eine schwierige Zeit hinter uns oder sind vielleicht noch mittendrin. Unser Hirn ist allerdings recht gut darin, bei solchen gedanklichen Auseinandersetzungen mit schwierigen Erfahrungen immer wieder dieselbe Abkürzung zu nehmen (zum Energiesparen, siehe oben) und deshalb hilt es vielen, sich dafür einen Partner zu suchen. Eher extrovertierte Menschen erkennt man am Wunsch, in schwierigen Situationen mit jemandem reden zu wollen und Nähe zu suchen. Umso besser, wenn der andere gerade dann ein offenes Ohr hat. Introvertierte Personen suchen in solchen Fällen eher den Abstand, wollen allein sein, um sich zu sortieren. Dabei kann es sehr hilfreich sein, sich einen Stift und Papier zu nehmen oder auch die Notizenapp oder Diktierfunktion am Handy und es aufzuschreiben bzw. aufzusprechen.

3. Sich in andere hineinversetzen können

Die feinere Wahrnehmung der eigenen Gefühle macht uns nicht zum Egoisten, wie manche befürchten, sondern kann uns im Gegenteil dabei unterstützen, die Gefühle anderer auch sensibler wahrzunehmen. Menschen haben ähnlich wie manche Tiere die Fähigkeit, die Gefühle anderer wahrzunehmen und mitzuerleben.

  • Dieses Phänomen ist unter dem Begriff emotionale Ansteckung bekannt und beschreibt die erste, basale Ebene des Einfühlungsvermögens.

  • Die zweite Ebene ist schon weniger verbreitet; außer uns Menschen zeigen sie nur noch Menschenaffen und Delfine oder Elefanten, so zitiert Judith Glück Ergebnisse der Verhaltensforschung. Es geht dabei um Trost und mitfühlende Sorge um den anderen, also um das Mitfühlen, nicht Mitleiden.

  • Die dritte Ebene des Einfühlungsvermögens ist dann nur noch beim Menschen zu finden, und zwar in Form der Analyse der Ursachen und dem Anbieten von Hilfe. Judith Glück bringt für die drei Ebenen das plastische Beispiel des schreienden Babys im Flugzeug. Die emotionale Ansteckung verursacht bei uns selbst unangegehme Gefühle und wir wollen, dass das Schreien aufhört. Die zweite Ebene beschränkt sich laut Glück oft auf nahstehende Personen – die Eltern des Babys möchten, dass es aufhört zu schreiben, damit es ihm wieder gut geht (nicht nur, damit sie selbst nicht so genervt/ verängstigt… sind). Und die dritte Ebene der Empathie umfasst die Analyse warum das Baby schreit, um dann Abhilfe zu schaffen. Ist die Windel voll, hat es Druck auf den Ohren, Hunger…?

Auf den ersten Blick mag man Weisheit vielleicht weniger mit Mitfühlen, sondern eher mit der Fähigkeit verbinden, anderen Menschen einen guten Rat geben zu können. Doch genau da liegt die Verbindung: Ein Rat wird nur dann gut sein, wenn er für die Person und ihre Situation passt. Je genauer ich mich einfühlen kann – ohne meine eigenen Gefühle und Überzeugungen in den Vordergrund zu stellen – umso besser kann ich jemandem raten. Einfühlungsvermöglen ist deshalb ein Schlüssel zur Weisheit.

In den kommenden Wochen werden wir alle wieder mit ganz unterschiedlichen Gefühlen umgehen müssen. Vielleicht ist es eine Anregung, in einer herausfordernden Situation zunächst einmal dabei zu bleiben, andere mit ihren Gefühlen zu sehen und so mitfühlen zu können. Allein ein Satz wie „Das sieht für mich aus, als wenn du gerade Gefühl X erlebst“ kann eine Brücke zum anderen bauen, auf der man sich begegenen kann. (Mehr dazu: Aktiv Zuhören)

4. Komplexe Zusammenhänge verstehen wollen

Auch wenn unser Hirn nach einfachen Erklärungen strebt (genau: Energiesparen, siehe oben), so lohnt es sich, die eigene Einschätzung zu hinterfragen, gerade in komplexen, unbekannten Situationen. Und in einer solchen Zeit leben wir alle: Viele Aspekte unseres Alltags haben sich verändert, in einer Weise, wie wir es nie für möglich gehalten hätten. Und mit diesen Veränderungen gilt es umzugehen, das eigene Leben anzupassen, neu zu gestalten und auch zu akzeptieren, was nicht mehr möglich ist. Judith Glück veranschaulicht das mit einem Schachspieler, der eine bestimmte Spielsituation „lesen“ kann, weil er einfach sehr, sehr viel Erfahrung mit Schach-Konstellationen hat. „Ähnliches gelingt einem weisen Menschen in komplexen Situationen des menschlichen Lebens.“ (S. 141) Sie können verschiedene Aspekte einer Situation wahrnehmen, auch wenn sie zunächst unsicher sind (wie in den verschiedenen Phasen der Pandemie), widersprüchlich scheinen (wie Expertenmeinungen in der Coronazeit) oder gegen unsere persönliche Überzeugung gehen (wenn wir an Freunde plötzlich als „haushaltsfremde Personen“ denken müssen). „Weise Menschen durchdenken ihre Erlebnisse und ziehen Schlüsse aus ihnen, die sie zu besseren Menschen machen.“ (s. 147) Was für ein Satz – durch Reflektion können wir zu besseren Menschen werden? Ja, das können wir, wenn es uns gelingt, unser „normales Denken“, das durch unsere persönlichen Filter geprägt ist, zu verlassen und mit Offenheit (siehe 1.), Selbstfreundlichkeit (siehe 2) und Interesse (siehe 3.) über eine belastende Erfahrung nachzudenken und sie zu verarbeiten. Zum Beispiel der Umgang mit dem besten Freund, der in Sachen Politik/ Corona/ Impfung/… so sonderbare Meinungen vertritt, dass es die Freundschaft belastet.

Aus Sicht eines Coaches scheint das eine gute Strategie zu sein:

  • Die Situation benennen, und zwar zunächst indem ich ihr eine Überschrift gebe. Wie würde die Headline in der Süddeutschen Zeitung lauten? Wie in der Bild-Zeitung, wie in Spektrum der Wissenschaft? Der Harvard-Psychiater Daniel Siegel nennt diese Intervention name it to tame it. „Gibt ihm einen Namen und es wird weniger schlimm.“

  • Dann die Situation von außen beschreiben, mit Offenheit, wie ein interessierter Beobachter oder ein Forscher. „Was ist hier los? Was gehört alles zu dieser Erfahrung?“ Es hilft oft dabei, buchstäblich einen Schritt nach außen zu tun. Wer mag, sucht sich dafür einen Gesprächspartner, wer es lieber für sich allein tun möchte, kann seine Gedanken aufschreiben.

  • Dann: Die eigenen Gefühle wahrnehmen, offen und interessiert, und vor allem mit der Einstellung, dass diese Gefühle da sein dürfen.

  • Und jetzt der interessante Schritt in die Position des/ der anderen Beteiligten: Wie fühlen sie sich? Welche Gefühle, Gedanken, Befürchtungen, Überzeugungen haben sie?

Auf diese Weise lassen sich komplexe Situationen, also solche, bei denen es nicht um einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge geht, ganz gut auseinandernehmen, betrachten, und dann mit neuen Einsichten wieder zusammenfügen. Oft neigen wir dazu, lineare Zusammenhänge anzunehmen („Du machst mich ganz nervös.“), als sei es eine einfach Reiz-Reaktions-Verbindung. Tatsächlich sind zwischenmenschliche Interaktionen aber komplex, das heißt nicht mit Ursache-Wirkungs-Regeln zu erklären. Die Regeln für unser Zusammenleben entstehen und verändern sich eben gerade in der Interaktion.

5. Akzeptieren, dass unser eigener Einfluss begrenzt ist

In der Psychologie ist seit den 70er Jahren das Phänomen der erlernten Hilflosigkeit bekannt, mit dem Martin Seligman depressive Denkmuster erklären konnte. Menschen werden krank, wenn sie das Gefühl haben, dass sie keinen Einfluss haben, speziell wenn es um unangenehme Erfahrungen oder Misserfolg geht. „Ich kann das nicht, werde es auch nicht lernen, und deshalb bringt es auch nichts, es zu versuchen.“ Diese Form des inneren Dialogs macht Menschen buchstäblich krank.

„Die Überwindung von Kontrollillusionen“ nennt Judith Glück diesen letzten Aspekt der Weisheit. Das klingt zunächst alles andere als ermutigend, denn wer will schon, dass die eigene Kontrolle eine Illusion ist? Doch darum geht es gar nicht, denn erstens brauchen wir weniger das Gefühl von Kontrolle als vielmehr von Wirksamkeit. Nehmen wir als Beispiel ein Vorstellungsgespräch. Der Unterschied besteht im Ergebnis: Kontrolle habe ich, wenn ich das Ergebnis bestimmen kann, also ob ich die Stelle bekomme. Und es wäre in der Tat eine Illusion zu glauben, das hinge allein von mir ab. Die anderen Bewerber spielen dabei eine Rolle, die Chemie mit dem Interviewer, Marktfaktoren usw. Wirksamkeit bedeutet dagegen, dass ich mein Bestes gebe, und zwar „weil ich es will“ und nicht nur „um die Stelle zu bekommen“. Bewerbungscoaches machen das deutlich, wenn sie sagen, jedes Bewerbungsgespräch, nach dem ich nicht genommen wurde, ist eine Trainingsmöglichkeit um besser zu verstehen, wie Bewerbungsgespräche funktionieren. Und damit erhöht sich mene Wirksamkeit. (Wenn ich die Stelle dann auch noch bekomme, umso besser.)

Selbstwirksamkeit ist ein wesentlicher Baustein für Wohlbefinden. Wer sich wirksam fühlt, dem geht es besser, deshalb kann er mehr tun, aktiver handeln, fühlt sich wirksamer, und so entsteht ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Doch auch die wirksamsten Menschen erleben Veränderungen wie die Pandemie, die von außen über sie hereinbrechen, müssen sich mit persönlichen Schicksalsschlägen auseinandersetzen, werden krank, verlieren geliebte Menschen. Hier nur mit dem Prinzip „mehr Selbstwirksamkeit wird es schon richten“ zu argumentieren, wäre zynisch.

„Vieles spricht dafür, dass weise Menschen viel Erfahrung mit Unkontrollierbarkeit haben. Weisheit entwickelt sich oft durch die Auseinandersetzung mit lebensverändernden Erfahrungen, und diese sind oft unerwartet und unerwünscht.“ (S. 163) Die Auseinandersetzung mit solchen Erfahrungen erfordert Mut und Ehrlichkeit. Es bringt nichts, sich dabei in die Tasche zu lügen und es bringt ebenfalls nichts, mit dem Coaching-Holzhammer aus jeder Schwierigkeit eine Chance machen zu wollen. Schmerz gehört zum menschlichen Leben, und das ist keine Kalenderweisheit sondern die Realität. Und um mit schmerzhaften Erfahrungen umzugehen, dabei hilft neben Mut und Ehrlichkeit eine dritte Ressource: Selbsttranszendenz.

Selbsttranszendenz ist ein sperriges Wort und bedeutet einfach ausgedrückt so etwas wie „über die eigene Nasenspitze hinaus“. Sie ist wohl eine der wichtigsten Haltungen, die wir Menschen im Umgang mit Schmerz, Belastung und  Verlust entwickeln können. „Nimm dich ernst, aber nicht wichtig“, so formulierte es ein Therapeut während der „Psychozeit“ der 80er Jahre einmal, und dieser Satz hat mich seitdem begleitet. Wir korrigieren damit die „unbewusste Annahme, dass die Welt sich um uns dreht“. (S. 181)

Um eine Perspektive der Selbsttranszendenz zu entwickeln, helfen Fragen. Möglicherweise finde ich auf diese Fragen keine schnelle Antwort, vielleicht erscheinen sie mir auch schwer, doch wahrscheinlich sind es genau dann gute Fragen für mich in meiner derzeitigen Situation.

  • Wie werde ich in 10 Jahren über diese Situation denken? Wie am Ende meines Lebens?

  • Angenommen, ich habe ein Kind, und das ist erwachsen und hat selbst schon Kinder. Wie wird mein Kind dann über die Situation denken, in der ich mich gerade befinde? Wie werden seine Kinder darüber denken?

  • Wenn aus dieser Situation etwas Gutes entstehen könnte, was könnte das sein?

Ganz wichtig ist dabei das Anerkennen, dass nicht die Situation selbst „gut“ ist. Viele Erfahrungenm können nicht „gut “ sein. Das Scheitern eines (nicht aufschiebbaren) Lebenstraums durch Einschränkungen der Pandemie, eine schwere Diagnose, der Verlust eines geliebten Menschen, all das kann und braucht nie „gut“ sein. Was aber immer als Möglichkeit besteht: dass in der Auseinandersetzung damit etwas Gutes wachsen kann. Wenn ich einen geliebten Menschen verloren habe, kann ich sein Andenken in Ehren halten und im positiven Sinn „ihm zuliebe“ gut weiterleben. Ich kann dafür soregn, dass die Erinnerung an diesen Menschen lebendig bleibt und mein eigenes Leben damit aktiv und kraftvoll leben.

Was die Weisheit wachsen lässt

Die fünf Aspekte der Weisheit sind nicht isoliert zu sehen sondern beeinflussen und verstärken sich gegenseitig. Judith Glück beschreibt sie deshalb  als „Syndrom“, d.h. als gemeinsam auftretende Aspekte. In der Medizin spricht man von einem Syndrom, wenn verschiedene Symptome derselben Ursache zugeordnet werden können. Weisheit ist also die Ursache, das „Syndrom“, und die fünf beschriebenen Aspekte ihre „Symptome“. Diese liegen vor allem in der Person selbst, wir haben es also (zumindest zum Teil) selbst in der Hand, wie wir ihre Entwicklung fördern oder hindern.

Äußere Faktoren spielen natrürlich bei der Entwicklung von Weisheit  eine wichtige Rolle und Judith Glück nennt hier zunächst die Möglichkeit zur „intensiven Übung, also zur Auseinandersetzung mit den fundamentalen Themen des menschlichen Lebens.“ (S. 187). Dazu zählen berufliche Rollen, das Alter im Sinne der Menge an Lebenserfahrung, die Kultur und die politische Situation. Und die Erfahrungen in zeiten einer Pandemie, können wir ergänzen.

Doch nicht alle Menschen, die „potentiell weisheitsförderliche Situationen“ erleben (was für ein schöner Ausdruck!),  werden dadurch weiser. Nach Judith Glück braucht es zusätzlich persönliche Motivation „Vielen Menschen geht es eher darum, sich selbst zu bestätigen, sich Macht über andere zu verschaffen oder auch einfach nur Sicherheit zu gewinnen. Weise wird nur, wer wirklich daran interessiert ist, auch schwierige und schmerzhafte Lektionen aus den eigenen Erfahrungen zu lernen.“ (S. 188/ 189)

Und was dabei unterstützt, das sind andere Menschen. Wir Menschen orientieren uns an Personen, die wir lieben, schätzen oder respektieren. Wir lernen am Vorbild, und das gilt auch für das Entwickeln von Weisheit. Dabei helfen uns Mentor*innen, doch nicht nur sie. Das Zusammensein mit „ganz normalen“ Menschen in einem Klima von Offenheit, Akzeptanz und Wertschätzung tut uns gut. Vertrauensvolle Freundschaften, eine Partnerschaft, die uns trägt, bilden einen natürlichen Nährboden für die Entwicklung der fünf Weisheits-Ressourcen. (Und damit meine ich nicht, dass man Freunde oder Partner*innen als Weisheits-Entwicklungshelfer instrumentalisieren sollte.) Judith Glück zitiert eine Studie, dass weise Menschen häufiger ihre Dankbarkeit für ihre langjährigen Partner*innen äußern, über den gemeinsam gegangenen Weg, auf dem man miteinander Erfahrungen gemacht und vielleicht auch gemeinsam verarbeitet hat.

Und vielleicht ist es das, was wir in diesen zweiten Corona-Herbst mitnehmen können:

Im ersten Jahr haben wir gelernt, dass es nicht um social distancing geht, sondern um emotionale Nähe bei physischer Distanz (mehr dazu im Video oder im Artikel über psychische Grundbedürfnisse). Wir haben uns daran gewöhnt, Nähe trotz Abstand aufzubauen und Beziehungen auf neue Weise zu pflegen.

Im zweiten Corona-Herbst können wir die Gemeinsamkeit in den Vordergrund holen, dass wir alle seit vielen Monaten in einer außergewöhnlichen Situation leben und sie nach bestem Können meistern. Das gelingt uns mal besser und mal schlechter (siehe  oben, Kontrollierbarkeit). Wir alle sind gemeinsam da drin, we are in it together, und diese Gemeinsamkeit ist es, was uns helfen wird, nicht nur durchzukommen und abzuwarten, „bis Corona endlich vorbei ist“, sondern die kommende Zeit mit ihren immer wieder neuen Herausforderungen gemeinsam so zu gestalten, dass wir weiser und mutiger daraus hervorgehen werden. Und damit können wir heute schon anfangen, mit einem ersten Schritt:

Fragen Sie heute noch einen Menschen nach etwas, das Sie ihn bisher noch nie gefragt haben. Oder ezählen Sie jemandem etwas von sich, das Sie noch nie gezeigt haben. Und lassen Sie sich überraschen, wie dieser kleine Schritt zu einem weiteren führen kann.

Literatur

Judith Glück: Weisheit – Die 5 Prinzipien des gelingenden Lebens. Kösel 2016

ISBN: 978-3-466-34646-2

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