Diese letzte Woche des Jahres ist anders als sonst. Die Weihnachtstage haben eine Zäsur in unseren Alltag gebracht, und aus dem hohen Tempo, mit dem viele von uns vor den Feiertagen noch möglichst vieles abschließen und fertigmachen wollten, kommen wir nun in eine andere Gangart. Viele haben nun ein paar freie Tage, die sie in einem anderen Rhythmus verbringen als sonst.
Wir könnten also innehalten und uns erlauben zur Ruhe zu kommen. Doch nicht immer stellt sich dabei die ersehnte Entspannung ein, sondern oft steigen erst einmal andere Gedanken und Gefühle an die Oberfläche. Und das irritiert uns, denn nun wäre doch endlich die Zeit zum „Abschalten“ gekommen. Es bringt aber bekanntlich nichts, auf dem Wunsch nach innerer Ruhe zu beharren und die störenden Gedanken und Gefühle wegzudrücken. Sinnvoller ist der Weg, ihnen Raum zu geben, um sie zu betrachten und zu verstehen. Dann können wir zur Ruhe kommen und daraus Kraft für das neue Jahr mit seinen Möglichkeiten schöpfen.
Rückblick
Welche Gedanken und Gefühle kommen, wenn wir auf das vergangene Jahr zurückschauen? Viele von uns haben ganz unterschiedliche Phasen erlebt, Zuversicht und Enttäuschung, Aufbruch und Abbremsen, Verbundenheit und Alleinsein. Die Bandbreite der eigenen Gefühle mag für viele größer gewesen sein als sonst, vielleicht auch schneller wechselnd, und nicht immer sind wir gedanklich mitgekommen. Statistiken zeigen, dass psychische Belastungen in diesem Jahr bei allen Menschen weiter zugenommen haben. Die Jungen haben mehr darunter gelitten als die Älteren, denn für sie macht die Pandemie im Verhältnis einen größeren Teil ihrer eigenen Lebenszeit aus. Singles und Alleinerziehende mussten mehr tragen, Selbständige und die, die um ihren Arbeitsplatz bangen mussten, ebenso.
Die „Werkseinstellung“ unseres Gehirns bewirkt, dass wir negative emotionale Ausschläge bei höherer Belastung stärker und länger erleben. Die positiven Momente treten dann mehr in den Hintergrund, sowohl in unserer aktuellen Wahrnehmung als auch in der Erinnerung. Und deshalb ist die Fähigkeit zur Unterschiedswahrnehmung so wichtig: Emotionsdifferenzierung hilft uns dabei, die Bandbreite unserer Gefühle wahrzunehmen, und den negativen ein Gegengewicht zu geben, um nicht in emotionale Schieflage zu geraten. (Dazu habe ich vor einem Jahr bereits einen Artikel geschrieben.)
Eine so differenzierte Wahrnehmung kann uns auch dabei helfen, unsere Gedanken zu sortieren, wenn wir auf das vergangene Jahr zurückschauen. „Einfach hinter sich lassen“, abschließen, am besten vergessen, das mag für manche nach einer reizvollen Option klingen, doch auf lange Sicht ist es für die psychische Entwicklung hilfreicher, die eigenen Erfahrungen zu integrieren, auch solche, die uns wehgetan haben. Immer wenn wir versuchen, Teile unserer Lebenserfahrungen auszublenden, wegzupacken oder zu vergessen, erfordert das psychische Energie. Und diese Energie muss stetig aufgebracht werden, damit die Erinnerungen nicht plötzlich in einem unpassenden Moment an die Oberfläche kommen, so wie ein Ball, den man lange unter der Wasseroberfläche gehalten hat und der in einem kleinen unachtsamen Moment plötzlich hochspringt. Nachdem er so lange unten gehalten worden war, springt er nämlich höher als gedacht.
Um Erfahrungen zu verarbeiten und in unsere Lebensgeschichte zu integrieren, brauchen wir Worte, gesprochene oder geschriebene. Welche Option die bessere ist, zeigt sich oft erst im Ausprobieren. Wenn wir unsere Gedanken mit einem anderen Menschen teilen, können wir Resonanz und soziale Unterstützung erleben. Neue Einsichten können entstehen, wenn wir uns verstanden fühlen. Doch das hängt nicht eben im Gespräch nicht nur von uns allein ab, sondern auch vom emotionalen Zustand unseres Gegenübers. Ein Therapeut oder Coach mag darin geschult sein, den eigenen Anteil während des Gesprächs hintanzustellen, ein Freund oder eine Freundin ist das nicht. Und so bedeutet Erzählen der Gedanken immer Chance und Risiko zugleich.
Wenn wir unsere Gedanken für uns selbst in Worte fassen wollen, eignet sich dafür am besten die Methode des expressiven Schreibens, bei der wir eine halbe Stunde lang einfach aus dem Bauch heraus schreiben, was uns bewegt. Durch den kontinuierlichen Schreibfluss kommen wir in einen anderen Aufmerksamkeitsmodus, und da wir nicht so schnell schreiben können wie wir denken, verlangsamt sich der Strom unserer Gedanken. Das kann neue Einsichten bringen und Perspektiven öffnen, die uns im Gedankenkarussell verschlossen bleiben.
Entscheidend für die Integration unserer Erfahrungen, seien es positive oder negative, ist das Zusammenführen der Gefühle und Gedanken mit den Erlebnissen. So können wir unsere Lebenserfahrungen verarbeiten und sie als zusammenhängende Geschichte verstehen lernen.
Gegenwart
Mit welcher Grundstimmung sind wir am Ende dieses Jahres in der Gegenwart? In Bezug auf die Pandemie müssen wir derzeit völlig konträre Botschaften verarbeiten: Die Inzidenzzahlen sinken stetig, was in der Vergangenheit ein Grund für Freude und Zuversicht war. Doch diesmal werden diese Nachrichten überschattet von den Warnungen vor der fünften, womöglich noch viel größeren Welle, in der sogar der die Allgemeinversorgung gefährdet scheint. Und die sinkenden Zahlen basieren wahrscheinlich auf der unklaren Datenlage über die Feiertage und sind deshalb kein Grund zur Zuversicht.
Unser Gehirn nimmt negative Reize schneller und aufmerksamer wahr, und die Darstellung in den Medien, auch den seriösen, unterstützt diese Tendenz noch, denn positive Nachrichten machen weit seltener Schlagzeilen.
Wenn wir nun in dieser Zeit vor dem Jahreswechsel innehalten und unsere Gedanken und Gefühle wahrnehmen, ist es entscheidend, dass wir nicht nur die „in der ersten Reihe“ wahrnehmen, sondern uns auch Zeit nehmen für die leiseren und sanfteren dahinter. Auch hier hilft es, Worte dafür zu finden, sei es beim Schreiben oder im Gespräch, um differenziert wahrzunehmen, was uns an Gedanken und Gefühlen bewegt. Dann können wir anfangen, Zusammenhänge zu verstehen, Muster erkennen und unsere Erfahrungen in unsere Lebensgeschichte hineinnehmen.
Ausblick
Wie ist er nun, der Ausblick auf das neue Jahr? Sicher ist eines: Wie das Jahr sich entwickeln wird, kann im Moment niemand mit Gewissheit abschätzen. Wir werden weiterhin mit Unsicherheit umgehen müssen, sind gefordert uns immer wieder erneut auf veränderte Bedingungen einzustellen, auch wenn wir uns so sehr wünschen würden, „dass es endlich vorbei ist“.
Und genau darin liegt paradoxerweise die Lösung: Je mehr wir uns darauf einlassen können, dass wir nicht ganz sicher sein können, desto mehr Raum kann sich innerlich für Zuversicht öffnen. Und das liegt an der Natur unserer Psyche, an unseren Grundbedürfnissen.
Was brauchen wir zum gelingenden Leben?
Menschen brauchen Sicherheit. Schon Maslow betonte die Bedeutung der körperlichen und psychischen Unbedrohtheit. Sicherheit hilft uns beim Überleben, ja, doch sie ist eben kein Wachstumsbedürfnis. Sicherheit ist ein Defizitbedürfnis, das immer dann aktiv wird, wenn es bedroht ist. Und das ist es seit Beginn der Pandemie. Um unsere gefährdete Sicherheit wiederherzustellen, versuchen wir unterschiedliche Strategien, die mehr oder weniger gut wirken. Im besten Fall helfen sie uns beim Überleben – aber eben nicht beim Wachstum.
Was wir brauchen, um zu wachsen, geht über Sicherheit hinaus. Und damit sind wir bei unseren psychischen Wachstumsbedürfnissen, der Grundlage für ein gelingendes Leben. Diese Grundbedürfnisse umfassen drei Facetten:
- Verbundenheit und Vertrauen in andere Menschen, in Beziehungen, in uns selbst
- Kompetenzerleben, das uns zeigt, dass unser Verhalten Wirkung hat und wir unsere Stärken einsetzen können
- Autonomie, mit der wir unsere Werte verwirklichen und den Kurs unseres Lebens selbst steuern.
Alle drei Grundbedürfnisse sind gleichermaßen wichtig (auch dazu gibt es einen eigenen Artikel) und sie alle haben während der Pandemie gelitten. Der unsägliche Begriff „social distancing“ vermittelte den Eindruck, dass soziale Nähe gefährlich sei – ein fataler Trugschluss. Wir Menschen brauchen das Gefühl menschlicher Verbindung so notwendig wie Essen und Trinken, und deshalb sollten wir den Ausdruck der „sozialen Distanz“ schleunigst durch „körperliche Distanz bei sozialer Nähe“ ersetzen. Und das ist keine Wortklauberei, sondern eine Grundlage unserer psychischen Gesundheit.
Kompetenz und Autonomie gehen oft Hand in Hand, denn was uns wichtig ist, dafür setzen wir uns ein und dabei wollen wir uns wirksam erleben. Und was wir gut können, das kann uns wichtig werden. Schon Aristoteles beschrieb den Zusammenhang zwischen Tun und Sein: „Ich bin es, weil ich es tue. Ich tue es, weil ich es bin.“
Und so möchte ich mit einigen Fragen für den Ausblick ins neue Jahr abschließen:
- Was ist mir wichtig? Wofür möchte ich mir im neuen Jahr Zeit nehmen, alleine oder mit anderen zusammen?
- Wo erlebe ich mich handlungsfähig und wirksam? Wie kann ich meine Spielräume finden und nutzen? Wie kann ich auf Möglichkeiten fokussieren statt auf Hindernisse und Beschränkungen?
- Wo kann ich zu Vertrauen und Verbundenheit beitragen? Wie kann ich Menschen nahe sein oder wieder näherkommen, auch wenn wir unterschiedliche Ansichten haben und verschiedene Strategien einsetzen? Wen lasse ich nahe an mich heran?
- …und wie kann ich dem auch in der Beziehung mit mir selbst Raum geben? Was ist mir für mich selbst wichtig? Welche Räume möchte ich mir im neuen Jahr eröffnen? Wo erlebe ich mich handlungsfähig und wirksam im Umgang mit mir selbst? Wie sorge ich für meine Bedürfnisse, meinen Körper, meine Gesundheit? Und schließlich: Wie kann ich mir selbst nahe sein? Wie kann ich mich so annehmen, wie mich meine beste Freundin oder mein bester Freund annehmen würde, mit allen Ecken und Kanten, mit allen Unperfektheiten – mit meiner eigenen Menschlichkeit?
Vielleicht können euch diese Fragen einen Inspiration sein, für die ihr euch Zeit nehmen wollt, sei es für euch selbst oder im Gespräch mit einem lieben Menschen?
Ich wünsche uns allen ein glückliches, gesundes, kraftvolles neues Jahr voller Mut, Zuversicht und Freude.
Daniela Blickhan