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Martin Seligman: Mein Fazit als Forscher

Opening Keynote auf der 5. Weltkonferenz zur Positiven Psychologie in Montreal, 2017

Martin Seligman gilt als einer der am häufigsten zitierten Psychologen unserer Zeit. Er blickt nun, kurz vor seinem 75. Geburtstag, auf mehr als  40 Jahre Forschung zurück. Sie umfasst ein breites Spektrum an Themen und reicht von „Erlernter Hilflosigkeit“ als Schlüsselfaktor für depressive Denkmuster bis hin zu Zukunftsorientierung, Entwicklung persönlicher Charakterstärken und Faktoren für menschliches Wohlbefinden.

Martin Seligman nutzte seine Eröffnungsansprache von 1300 Zuhörern auf der 5. Weltkonferenz zur Positiven Psychologie in Montreal im Juli 2017, um sein Lebenswerk als Forscher in fünf zentralen Themen zusammenzufassen. Dabei beschreibt er jeweils, welche Erkenntnisse in der jeweiligen Forschungsphase erreicht wurden. Zu jedem Forschungsgebiet stellt er seine Einschätzung der Erkenntnisse aus heutiger Sicht und ihre zukünftige Bedeutung heraus. Den Beitrag seiner Forschungskollegen würdigt er dabei explizit und bezeichnet sie als „Schwergewichte“ (heavy lifters), als wolle er seine eigene Leistung im Vergleich dazu relativieren. Eine solche Demut erlebte man bisher bei Seligman eher selten.

Erlernte Hilflosigkeit – Grundlage der modernen Behandlung der Depression

Früher

In seinem ersten Forschungsthema, mit dem er weltweite Beachtung erlangte, ging Seligman der Frage nach, wie sich lang anhaltende Erfahrungen von Hilflosigkeit angesichts unangenehmer, schmerzhafter oder bedrohlicher Erfahrungen auf menschliches Verhalten und Denkmuster auswirken. Die ersten Erkenntnisse dazu stammten aus Experimenten mit Hunden, die wiederholten schwachen Stromreizen ausgesetzt waren, denen sie nicht entfliehen konnten (Gruppe 1). Im Vergleich zu Artgenossen, die diese Stromreize durch eigenes Verhalten beenden konnten (Gruppe 2), zeigten die Hunde der Gruppe 1 schnell ein Verhalten „erlernter Hilflosigkeit“: Am nächsten Tag verließen nur 30 Prozent von ihnen den Versuchskäfig, obwohl die Möglichkeit dazu bestand. Die Hunde der Gruppe 2 nutzten ihren Fluchtweg dagegen zu 90 Prozent, ebenso eine Kontrollgruppe von Hunden, die gar keine Stromreize erhalten hatte. Eine Wiederholung solcher Versuche mit Ratten führte zu vergleichbaren Ergebnissen, ebenso eine Versuchsanordnung, bei der Menschen extrem starkem Lärm ausgesetzt wurden. Da man Menschen nach ihren Gedanken befragen konnte, die sie während des Experiments hatten, war so die Erforschung von „hilflosen“ Denkmustern möglich. Seligman brachte diese Erkenntnisse in Verbindung mit dem bereits bekannten Konzept der Ursachenzuschreibung (Attribution, Weiner, 1985) und legte so den Grundstein für die Theorie der erlernten Hilflosigkeit als Grundlage depressiver Entwicklungen.

Heute

Die Erlernte Hilflosigkeit lässt sich im Gehirn lokalisieren, genauer gesagt im Hirnstamm, den Seligman rat brain nennt (DRN: Dorsal Raphe Nucleus). Zwischen dieser Struktur DRN und dem Großhirn (PFC: Präfrontaler Cortex) existiert ein Schaltkreis, der sozusagen wie ein „Ein-Aus-Schalter“ für die erlernte Hilflosigkeit wirken kann (Maier & Seligman, 2016). Bei Versuchen mit Ratten stellte sich folgendes heraus:

  • In einer Versuchsanordnung nach dem Muster der erlernten Hilflosigkeit (s.o., „Gruppe hilflos“) zeigten die Ratten schnell das erwartete Reaktionsmuster: Sie verhielten sich hilflos.

  • Wurde jedoch der Schaltkreis zwischen Großhirn und Mittelhirn (PFC – DRN) aktiviert, lernten die Ratten kein hilfloses Verhalten – obwohl sie in der „Gruppe hilflos“ waren.

  • Wurde der Schaltkreis zwischen Großhirn und Mittelhirn (PFC – DRN) deaktiviert, lernten die Ratten hilfloses Verhalten – auch wenn sie in der „Gruppe Kontrolle“ waren.

In Seligmans Worten:

When you teach animals helplessness and turn this circuit on, the animals don’t get helpless. When you teach animals control and turn that circuit off, the animals get helpless.

Seligman bezeichnet den Schaltkreis deshalb als “Hope Circuit”, auf Deutsch am besten übersetzt mit “Zuversichts-Schaltkreis”.

In Zukunft

Die WHO erwartet, dass sich depressive Erkrankungen bereits 2020 zur häufigsten Volkskrankheit entwickeln werden. Wäre es möglich, diesen Schaltkreis beim Menschen gezielt zu stimulieren (was allerdings derzeit noch nicht machbar ist), so könnte dies zu einer Heilung der Depression auf neurophysiologischer Basis führen.

Preparedness („Voreinstellung“ ): wie wir lernen, Angst zu haben und Ekel zu empfinden

Früher

Menschen (und Tiere) lernen manche Zusammenhänge schneller und dauerhafter als andere. Seligman illustriert das mit seinem Beispiel der „Sauce Bearnaise“. Seit ihm einmal nach dem Genuss dieser Sauce sehr, sehr übel wurde, könne er sie nicht mehr essen – ein Phänomen, das jeder von uns aus persönlicher Erfahrung mit dem einen oder anderen Lebensmittel kennen mag. Wenn man bei Tieren Übelkeit induziert und sie dabei sowohl mit einem spezifischen üblen Geschmack („Sauce Bearnaise“) als auch einem lauten Geräusch oder einem grellen Licht konfrontiert, vermeiden die Tiere später den Geschmack, nicht jedoch das Geräusch oder Licht. Erleiden die Tiere aber Schmerz in Gegenwart von einem bestimmten Geschmack, Ton oder Licht, so bleibt der Schmerz mit Licht oder Ton verbunden. Davor fliehen die Tiere, nicht aber vor dem Geschmack. Im Sinne des Behaviorismus müsste aber eine aversive Reaktion wie Übelkeit oder Schmerz zu einer starken Verbindung mit dem gleichzeitig vorhandenen Reiz führen. Es dürfte keinen Unterschied machen, ob der Reiz ein Geschmack, ein Geräusch oder ein Licht ist. Seligmans Forschungsergebnisse zeigen aber deutlich, dass bestimmte Koppelungen schneller und dauerhafter gelernt werden. Diese „Voreinstellung“ (preparedness, Seligman, 1971) betrifft Geschmack für Übelkeit und Ton bzw. Licht für Schmerz, sowohl bei Tieren als auch bei Menschen. Seligman bezeichnet diese Lernverbindungen als „sticky“ – sie bleiben sozusagen kleben.

Heute

Da unser Gehirn verglichen mit seiner Größe am meisten Energie von allen Organen verbraucht, schaltet es möglichst oft auf den sogenannten Energiesparmodus. Die Hirnforschung spricht hier vom default network, das sozusagen einem Bildschirmschoner älterer Monitore entspricht. In diesem Modus scheint das Gehirn reaktionsbereiter für die oben genannten Verbindungen.

In einem kurzen Exkurs über Wahrheitsfindung – Seligman studierte vor der Psychologie auch Philosophie – fasst er zwei philosophische Ansätze zusammen: Wahrheit entsteht aus unseren Wahrnehmungen („truth is evidence about the world“). Wir treffen Vorannehmen, überprüfen sie und entwickeln so Stück für Stück unser Weltbild. Ein anderer Ansatz geht dagegen davon aus, dass wir Wahrheit immer in Verbindung mit dem entwickeln, was bereits vorhanden ist. Diese correspondence theory ist nach Seligmans Ansicht Grundlage der „stickyness“ der beschriebenen Koppelungen mancher Reiz- und Reaktionsarten.

In Zukunft

Für die Zukunft sieht Seligman hier die Möglichkeit, dass wir diese Zusammenhänge besser und besser verstehen: Wir lernen manche Dinge dauerhaft, weil sie so gut zu dem passen, was wir bereits wissen und unser Weltbild bestätigen.

Erlernter Optimismus: der Beginn der Positiven Psychologie

Dieses Forschungsgebiet ist inhaltlich mit den beiden bereits beschriebenen verbunden, speziell mit der Erlernten Hilflosigkeit. Seligman zitiert für dieses Feld eine ganze Reihe an „Schwergewichten“ seiner Forscherkollegen, z.B. Peterson, Abramson, Garber, Lyubomirsky.

Früher

Depressive Denkmuster zeichnen sich dadurch aus, dass negative Erfahrungen auf eigenes Verhalten bzw. Verschulden zurückgeführt werden (me: „Es liegt an mir.“), für die Zukunft in gleichem Maß erwartet werden (always: „Das wird auch künftig so passieren.“) und zwar bezogen auf weitere Lebensbereiche (everything: „Es wird überall so sein.“). Wenn ein Mitarbeiter zum Beispiel bemerkt, wie sein Vorgesetzter wortlos an ihm vorbeigeht, wäre eine Interpretation im Sinne der erlernten Hilflosigkeit: „Mein Chef hat mich keines Blickes gewürdigt. Wahrscheinlich war ihm mein letzter Bericht wieder nicht gut genug. Sicher überlegter auch schon, wann er mir die Kündigung überreicht. Und meine Frau war neulich auch so wortkarg – sie denkt vielleicht auch schon über eine Trennung nach. Was soll ich nur tun?“ Ein anderer Kollege hätte stattdessen denken können: „Meine Güte, der Chef wirkte heute wieder abwesend. Wahrscheinlich hat er wieder Druck von oben bekommen – er hat ja nichts um sich herum wahrgenommen. Ob ich ihm zum nächsten Meeting einen Kaffee mitbringe?“

Seligmans Erkenntnisse legten den Grundstein für die moderne Behandlung depressiver Symptombilder im Sinne der kognitiven Verhaltenstherapie. Kurz gesagt werden dabei solche destruktiven Denkmuster analysiert und durch angemessene bzw. konstruktive Interpretationen ersetzt. Da es sich um Denkgewohnheiten handelt, braucht es dafür neben dem Erkennen der „hilflosen Muster“  auch Training für den Aufbau realitätsgerechter Bewertungen und konstruktiver Gedanken. Dieses Einüben neuer Denkmuster, speziell für belastende, stressige Situationen, macht einen großen Teil der therapeutischen Arbeit aus (vgl. z.B. Ellis, 2001).

Heute

Neben der Behandlung depressiver Erkrankungen rückt mehr und mehr ihre Prophylaxe in den Blickpunkt. Welche Übungen, welches Training kann Menschen helfen, keine solchen destruktiven Denkgewohnheiten zu entwickeln? Was schützt vor Depression? Hier nennt Seligman das Feld der Resilienztrainings, in dem er selbst mit seinem Projekt bei der US Army einen weit über die Fachgrenzen hinaus bekannt gewordenen Beitrag geleistet hat, der allerdings nicht unumstritten blieb.

In Zukunft

Aus medizinischen Studien ist Pessimismus mittlerweile als ernstzunehmender Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekannt. Die schädliche Wirkung einer pessimistischen Grundhaltung entspricht laut Seligman etwa der von 2,5 Packungen Zigaretten täglich. Seligmans Vision beinhaltet deshalb, dass alle Herzpatienten spätestens nach dem ersten Infarkt nicht nur Beratung in Bezug auf Ernährung und Bewegung bekommen, sondern auch ein explizites Resilienztraining.

Homo Prospectus – der vorausschauende Mensch: Warum uns Ziele mehr motivieren als Vergangenes

Früher

Seligman charakterisiert die früher vorherrschende Lehrmeinung der Psychotherapie mit folgenden Worten: „Arbeite mit der Erinnerung (der Vergangenheit) und der Wahrnehmung (der Gegenwart) und du kannst künftiges Verhalten vorhersagen.“ Seiner Meinung nach beschreibt das die Möglichkeiten nur unzureichend, denn Menschen sind zukunftsorientiert: „We are not driven by the past, we are drawn by the future.“

Heute

Menschen sind zukunftsorientiert. Dies bestimmt ihr Verhalten weit mehr als die bloße Extrapolation aus bisherigen Erfahrungen. Der bereits erwähnte „Bildschirmschoner-Modus“ (default network) sollte treffender als „imagination circuit“ beschrieben werden, also als „Vorstellungs-Schaltkreis“, über den wir uns ständig mögliche Zukünfte ausmalen. (Baumeister, Railton, Kauffmann)

Positive Psychologie: die Wissenschaft des gelingenden Lebens und Arbeitens

Die Reihenfolge dieser fünf Fokuspunkte seiner Forschung wählte Seligman nach seinen eigenen Worten nicht nach chronologischer Ordnung. Auf einer Weltkonferenz Positive Psychologie scheint es deshalb nur folgerichtig, dass er das Feld der Positiven Psychologie als Schlusspunkt nennt.

Früher

Für seine Amtszeit als Präsident der APA, der Vereinigung der amerikanischen Psychologen hatte Seligman 1998 als Motto ausgegeben: Die Psychologie solle sich nicht nur darum kümmern, Störungen zu erkennen und zu lindern, sondern stattdessen positive menschliche Eigenschaften auf- und ausbauen. „It is not about correcting what’s wrong – it is about building what’s right.“ Damit wurde die moderne Positive Psychologie aus der Taufe gehoben, und sie ist mittlerweile eines der Forschungsgebiete der wissenschaftlichen Psychologie, das am schnellsten gewachsen ist. Kein anderer Bereich der Psychologie hat so rasch den Weg von der Forschung in die Praxis geschafft – und genau darüber teilen sich die Meinungen: Etablierte, konservative Forscher fordern, dass noch viel mehr empirische Belege gesammelt werden sollen, bevor das neue Wissen Eingang in die Praxis findet, in Schulen, Firmen, Familien und der Gesellschaft. Etablierte, fortschrittliche Forscher fordern genau das Gegenteil: Die Menge an empirischen Belegen habe sich in den letzten 20 Jahren vervielfacht, nun sei es an der Zeit, das Wissen denen zugänglich zu machen, die im angewandten Feld damit arbeiten können. Wie kann menschliches Wohlbefinden, Potential, Wachstum und Flourishing langfristig gefördert werden? Diese Frage ist für Martin Seligman zentral.

Heute und in Zukunft

Im Fokus der aktuellen Positiven Psychologie stehen Familien und Schulen im Fokus. Wie können wir früh den Grundstein legen für ein gelingendes Leben? Was fördert die Entwicklung von Kindern zu gesunden, leistungsfähigen, glücklichen Erwachsenen? Martin Seligman hat weiterhin den Anspruch, die Welt zu verändern. Sein Ziel ist es, Erziehung und Schule zu verändern und er ist nach wie vor an bahnbrechenden Projekten beteiligt wie dem Schulentwicklungsprojekt in Peru, in dem mehrere zehntausend Schüler auf Basis Positiver Psychologie unterrichtet werden. Für die Zukunft spannt er den Rahmen sogar noch größer: Wie würde eine Religion ohne das Konzept des Leidens und der Sünde aussehen?

Fazit

Diese Keynote von Martin Seligman war in vielerlei Hinsicht besonders. Fast wirkte es, als wolle er sein Lebenswerk zusammenfassen und kurz vor seinem 75. Geburtstag (am 12.08.2017) in gute Hände legen. Er hatte sie mit den Worten begonnen, dass dies eine Rede sei, die noch keiner der Anwesenden gehört habe. Damit nahm Seligman Bezug darauf, dass seine öffentlichen Vorträge auf Kongressen der letzten fünf Jahre durchaus ähnliche Elemente enthalten hatten. Und er sollte recht behalten: Diese Zusammenfassung seiner zentralen Forschungsthemen war neu, beeindruckend und wegweisend. Vor allem auch wegen der Demut, mit der er für jeden Bereich die „Schwergewichte“ seiner Forscherkollegen benannt hatte und seinen eigenen Beitrag in den Hintergrund gerückt. Damit hat Martin Seligman wieder einmal Geschichte geschrieben und unterstützt die Positive Psychologie auf ihrem Weg in die Zukunft.

Literatur

Ellis, A. (2001). Overcoming destructive beliefs, feelings, and behaviors. New directions for rational emotive behavior therapy. Amherst: Prometheus Books.

Maier, S. F. & Seligman, M. E. P. (2016). Learned helplessness at fifty: Insights from neuroscience. Psychological Review, 123 (4), 349-367.
Seligman, M. E. P. (1971). Phobias and preparedness. Behavior therapy, 2 (3), 307-320.
Weiner, B. (1985). An attributional theory of achievement motivation and emotion. Psychological Review, 92 (4), 548.

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