Im ersten Artikel habe ich von Martin Seligman und dem Umgang mit Depression berichtet, von High Quality Connections und von großen Studien wie dem World Happiness Report und der Global Flourishing Study. In diesem zweiten Teil möchte ich zwei Personen mit zwei hochinteressanten Themen vorstellen:
- Psychischer Reichtum – was macht uns wirklich glücklich? Shigehiro Oishi
- Positive Provokation – neue Gedankenanstöße in psychischer Sicherheit ermöglichen Einsichten. Robert Biswas-Diener
Beide Personen standen Ed Diener, dem Begründer der Forschung über Glück bzw. Wohlbefinden, sehr nahe. Den einen prägte Ed Diener (verstorben 2021) als Mentor, den anderen als Vater -beiden war er ein Vorbild, über das sie mit großer Offenheit und Dankbarkeit sprechen, so auch am Kongress in Vancouver.
Psychischer Reichtum
Ein interessanter Titel für eine der wenigen Keynotes im Plenum auf dieser Konferenz. Vom Autor, Shigehiro Oishi, hatte ich bereits vieles gelesen. Ehemaliger Doktorand von Ed Diener, Mitautor bei vielen seiner wichtigen Fachartikel, mittlerweile selbst Professor der Psychologie. In seinem Vortrag stellt er die Frage in den Mittelpunkt, warum uns ein psychisch reiches Leben glücklicher macht als eines, das mit positiven Emotionen gefüllt ist. Das verspricht interessant zu werden!
Zu Beginn würdigt Oishi seinen Mentor Ed Diener mit persönlichen Worten und Bildern, um dann direkt zum Kernthema Psychological Richness zu kommen: Was kennzeichnet ein psychisch reiches Leben?
Ein psychisch reiches Leben ist
- interessant
- ereignisreich
- dramatisch – geprägt von intensiven Emotionen, nicht nur von positiven.
Ein psychisch reiches Leben führt zu
- Einsicht
- Lernen und
- Perspektivwechseln.
Die Studien, mit denen das Forscherteam das Konzept untersucht und seine Plausibilität belegt, sind interessant:
- Zunächst werden Studierende befragt, die ein Jahr im Ausland verbringen oder an ihrer Heimatuniversität bleiben. In Bezug auf angenehme Gefühle (happiness) und Sinnerleben (meaning) zeigten sie keine Unterschiede, in Bezug auf Psychischen Reichtum schlug das Auslandsjahr aber mit dem Faktor 2 zu Buche.
- Weitere Studierende sollten über das „intensivste Erlebnis der letzten Woche“ schreiben, entweder in der Reihenfolge „negativ – positiv“ oder „positiv – positiv“. Auf die Frage, wie sich ihre Einstellung dadurch geändert hatte, antworteten nur die Probanden der ersten Gruppe mit einem klaren Ja, also die Personen, die sich zunächst ein intensiv negatives Erlebnis in Erinnerung gerufen hatten. Sie zeigten deutlich mehr Psychischen Reichtum – aber auch (natürlich) weniger positive Emotionen als die Gruppe, die über zwei positive Erlebnisse geschrieben hatte. In Bezug auf ihr Sinnerleben unterschieden sich die Gruppen nicht!
Was ist ein gutes Leben?
Oishi fasste seine umfangreiche Forschung mit dem Triadischen Modell eines guten Lebens zusammen:
- Happy Life: „Ich hatte Spaß.“ „Mir ging’s gut.“
Das glückliche (fröhliche) Leben ist von angenehmen Gefühlen, Freude und Sicherheit geprägt. - Meaningful Life: „Ich habe etwas bewirkt.“
Hier herrschen Aspekte wie Bedeutsamkeit, Berufung und Kohärenz vor, also die klassichen Faktoren der Sinnerfüllung. - Psychologically Rich Life: „Ich habe viel erlebt und viel gelernt.“
Dieses Leben ist geprägt durch Unterschiedlichkeit und Abwechslung. Es wird als interessant erlebt und die Person ändert ihre Haltung, erweitert ihre Sicht auf die Welt und sich selbst.
Dieses Konzept fasziniert mich, und Shigehiro Oishi hat mich in seinem Vortrag persönlich beeindruckt. Er ist einer der Forscher, die auf mich fachlich überzeugend, persönlich glaubwürdig und menschlich inspirierend wirken. Ich werde mich mit diesem Thema mit Sicherheit weiter beschäftigen, denn genau darum geht es meiner Einschätzung nach beim gelingenden Leben – nicht um Happiness, sondern um Erfüllung und Intensität.
Und damit sind wir auch direkt beim zweiten Forscher, den ich hier vorstellen möchte. „Mut“ ist eines seiner Forschungs- und Lebensthemen. „I just happen to be brave“ sagte er 2015, als wir ihn für einen Workshop nach Rosenheim geholt hatten, und er auf der Bühne stand und darüber berichtete, welche Prüfungen er absolvieren musste, damit er die Massai in Kenia über Stärken befragen durfte. (Löwen jagen war nicht das, was er wählte.)
Robert Biswas-Diener: Positive Provokation
Robert (da ich ihn persönlich gut kenne, erlaube ich mir, ihn beim Vornamen zu nennen) ist in der Positiven Psychologie auf mehrere Weisen bekannt: Als Sohn Ed und Carol Dieners kommt er aus einer Familie bekannter Psychologen. Seine eigene Forschung führte ihn in entlegene Gebiete der Welt und brachte ihm prom pt den Beinamen „Indiana Jones der Positiven Psychologie“ ein. Er prägte den Begriff Positive Psychology Coaching (2010) und hat seitdem enorm viel dazu beigetragen, dass die PP in die Anwendung kommt, speziell im Coaching und in der Arbeit mit Unternehmen in ganz unterschiedlichen Ländern.
Robert begann seinen Vortrag mit einer Einordnung:
Was ist eigentlich Provokation? Und was macht sie positiv?
Für ihn ergibt sich das aus drei Aspekten einer Herausforderung: Wie neu ist sie? Wie stark? Und wie offen ist der Empfänger dafür? (novelty of, strength of, openness for challenge)
Er beschreibt das mit einer geometrischen Analogie, die er 2019 in Bad Aibling bereits vorgestellt hatte und die sein Selbstverständnis als Coach und Trainer gut beschreibt. Ich gebe sie hier sinngemäß wieder:
„Wenn ich euch das erzähle, was ihr ohnehin schon wisst bzw. glaubt, dann sind wir in einem Winkel von „null Grad“. Ist meine Provokation zu stark und bringe ich zu polarisierende Argumente, dann stehen wir uns „180 Grad“ gegenüber, wie im klassischen Western. Daraus ergibt sich wenig Offenheit und Einsicht. Mein Ziel sind deshalb „90 Grad“ – neu genug, damit es interessant und anregend ist, doch auch nicht zu konfrontativ und polarisierend.“
In seinem neuen Buch „Positive Provocation“ stellt er 25 Thesen zur Diskussion, um angehende und erfahrene Coaches zum Nachdenken zu bringen. Roberts Ziel ist es, die Welt immer wieder „frisch“ zu betrachten, nichts für dauerhaft gegeben oder „richtig“ anzunehmen, sondern immer wieder aus neuen Blickwinkeln zu schauen, könnte es vielleicht auch anders sein? Er spricht offen darüber, wie sehr sich sein eigenes Verständnis von PP-Coaching seit seinem ersten Buch darüber gewandelt hat. Vieles von dem, was er 2010 geschrieben hatte, lehnt er heute selbst rundweg ab, so etwa die Nutzung formalisierter Interventionen im Coaching.
„My coaching is informed by positive psychology“
Die PP bildet den Hintergrund und prägt die Haltung als Coach, soll aber nicht zum formelhaften „Verordnen“ von Interventionen führen. Ich nenne das gerne „psychische Turnübungen“. Sie sind sinnvoll, wenn mir bewusst ist, dass es nicht ums Turnen geht, sondern um das, was ich mit gestärkten Muskeln bewirken und erleben kann.
Dankbarkeit ist dafür ein gutes Beispiel: Der Sinn liegt nicht darin, Klient*innen Dankbarkeitsbriefe schreiben oder Besuche machen zu lassen, sondern vielmehr im Wahrnehmen und Ausdrücken von Dankbarkeit, wenn sie in einer Situation erlebt wird, sozusagen in Echtzeit. Dazu können die „Turnübungen“ helfen, doch sie sind eben nur ein Zwischenschritt auf dem Weg, nicht das Ziel.
Entweder oder – oder sowohl als auch?
Eine Metapher für Werteglück und Wohlfühlglück
In der Positiven Psychologie werden seit Jahrzehnten zwei unterschiedliche Arten des Wohlbefindens beschrieben und erforscht:
- Hedonisches Wohlbefinden, das angenehme Leben, das Wohlfühlglück
- Eudaimonisches Wohlbefinden, das erfüllte Leben, das Werteglück
„Die meisten von uns werden intuitiv das Werteglück dem Wohlfühlglück vorziehen, weil es ‚tiefer‘ ist, ‚edler‘, ‚wichtiger‘“, so Robert bei seinem Vortrag. Ist das wirklich so? Als Antwort bringt Robert eine seiner grandiosen Metaphern:
Wie wäre es, wenn beide Arten des Glücks so wie Zahnräder in einer Uhr funktionieren? Nur wenn sie beide zusammenwirken, können wir die Zeit ablesen.
So eine einfache Metapher, und so unglaublich aussagekräftig! Und der Zusammenhang zum oben vorgestelltem Konzept des Psychischen Reichtums liegt auf der Hand. Zugleich ist es eine Antwort auf Kritiker, die der Positiven Psychologie (immer noch?) vorwerfen, eine Happyologie zu sein.
Auch dafür bringt Robert eine großartige Metapher (in seinem Buch The Upside of Your Dark Side):
Was ist besser, angenehme oder unangenehme Gefühle?
Das ist ungefähr so als wollte man eine Batterie fragen, welche ihrer beiden Pole der bessere sei, der Pluspol oder der Minuspol. Nur wenn beide vorhanden sind, kann der Strom fließen. Und deshalb geht es im Leben – und im Coaching – um psychische Flexibilität. Wir brauchen diese Schwingungsfähigkeit (wie ich sie gerne nenne), um psychisch an unseren Erfahrungen zu wachsen, gesund zu bleiben und uns zu entwickeln im Sinne „Werde wer du bist“.
Dies und noch viel mehr hat Robert Biswas-Diener in einer knappen Stunde mit sehr viel Humor, menschlicher Wärme, Authentizität – und positiver Provokation vermittelt. Eins meiner Highlights des gesamten Kongresses. Ich hoffe, ich kann Robert 2024 wieder für einen Workshop nach Rosenheim holen. Vielleicht zusammen mit Christian van Nieuwerburgh, der ebenfalls als Referent in Vancouver war, in einem Panel über PP Coaching zusammen mit Robert Biswas-Diener. Teilnehmende unserer Coachingausbildung kennen ihn als Autor des „way of being“ im Coaching.
Ich werde berichten, wenn es dazu Konkretes gibt. (Tipp: Abonniere unseren Blog, dann erfährst du solche Neuigkeiten direkt.)
Viel Freude mit den Impulsen und herzliche Grüße, immer noch aus Kanada,
Daniela
PS: Wer interessiert ist an der „Upside of your Dark Side“, der findet in diesem Video von 2015 vielleicht die eine oder andere Inspiration
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