Dieser Artikel erschien in Heft 1/2014 von Praxis Kommunikation (damals noch Kommunikation & Seminar) des Junfermann Verlages.
Der Verbrauch von Antidepressiva hat sich in Deutschland zwischen 2007 und 2011 verdoppelt[1]. Im Zeitraum von einem Jahr leiden in Deutschland 12 Prozent aller Erwachsenen unter einer Depression. Das bedeutet, dass in den letzten 12 Monaten hierzulande fünf bis sechs Millionen Menschen[2] an einer Depression erkrankt sind. Diese Zahlen sind als konservative Schätzung anzusehen, die weder Kinder und Jugendliche, noch ältere Menschen berücksichtigen. Das Erkrankungsrisiko für Depression liegt bei Jugendlichen ähnlich hoch wie bei Erwachsenen.
Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann im Laufe des Lebens eine Depression zu entwickeln, liegt für Frauen bei 25 Prozent und für Männer bei 12 Prozent. Zieht man in Betracht, dass sich depressive Symptome bei Männern anders äußern (z.B. in Aggressivität und Suchtverhalten[3]), gleichen sich die Zahlen der Männer denen der Frauen an. Alleinerziehende und Alleinstehende sind besonders häufig von einer Depression betroffen. Studien zeigen Geschlechterunterschiede für die Faktoren, die eine Depression begünstigen[4]: Bei Männern im Erwerbsalter findet sich ein stärkerer Zusammenhang zwischen niedrigem Sozialstatus und der Diagnose Depression, bei Frauen zeigt sich der Zusammenhang zwischen geringer sozialer Unterstützung und Depression.
Seit sich zunehmend auch Prominente und Sportler „geoutet“ haben, erscheint Depression nicht mehr als das Tabuthema, das es lange Zeit war. Weil es so viele Menschen betrifft und vor allem weil Depression, wenn sie nicht behandelt wird, einen zyklischen Verlauf annimmt und regelmäßig wiederkehren kann, sind Kenntnisse über Symptome und Hintergründe auch für Coaches und Trainer wichtig, die ständig mit Menschen umgehen und sie oft auch in Übergangsphasen begleiten.
Zur Diagnostik psychischer Störungen verwenden Ärzte und Psychotherapeuten entweder das DSM[5] (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) oder das ICD[6] (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme).
Diagnosekriterien für Depression nach dem ICD-10
Das ICD unterscheidet depressive Episoden von rezidivierenden depressiven Störungen. Der wesentliche Unterschied ist dabei, ob die Depression einmalig auftritt oder wiederholt (rezidivierend). „Bei den typischen leichten, mittelgradigen oder schweren Episoden leidet der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten somatischen Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust. Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer zu bezeichnen.“[7]
Nach dem derzeit gültigen ICD-10 wird eine leichte depressive Episode bei zwei oder drei der oben angegebenen Symptome diagnostiziert. Es besteht zwar eine subjektive Beeinträchtigung, doch das normale Alltagsleben kann weitgehend fortgeführt werden.
Eine mittelgradige depressive Episode wird bei vier oder mehr der oben angegebenen Symptome diagnostiziert. In diesem Fall hat der Betroffene meist große Schwierigkeiten, seine alltäglichen Aktivitäten fortzusetzen.
Eine schwere depressive Episode umfasst mehrere der Symptome in quälender Form, verbunden mit Gefühlen von Wertlosigkeit, Schuld und oft weiteren körperlichen Symptomen. Es bestehen Suizidtendenzen, entweder gedanklich oder auch in konkreten Handlungen.
Das ICD differenziert weiter in Depression mit psychotischen Symptomen oder ohne, das meint eine zusätzliche Störung der Wahrnehmung und des Denkens, oft verbunden mit Realitätsverlust.
Bei einer rezidivierenden depressiven Störung treten wiederholte depressive Episoden auf – allerdings ohne unabhängige Phasen mit deutlich gehobener Stimmung und übersteigertem Antrieb (das wäre eine Manie).
„Kurze Episoden von leicht gehobener Stimmung und Überaktivität (Hypomanie) können allerdings unmittelbar nach einer depressiven Episode, manchmal durch eine antidepressive Behandlung mitbedingt, aufgetreten sein. … Bei Auftreten einer manischen Episode ist die Diagnose in bipolare affektive Störung zu ändern.“[8]
Diagnosekriterien für Depression nach dem DSM
Seit 1980 gibt es das DSM-III und zwar mit einer klaren Definition sämtlicher psychischer Störung anhand einer ausschließlich symptombezogenen Diagnostik. Eine jede Diagnose setzt die Einschätzung zu fünf „Achsen“ voraus:
Achse I: Klinische Störungen, z.B. Schizophrenie, Angststörungen, Depression
Achse II: Persönlichkeitsstörungen, z.B. Borderline oder andere Persönlichkeitsstörungen
Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren (körperliche Probleme, die bedeutsam für die psychische Störung sein können)
Achse IV: Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme
Achse V: Globale Beurteilung des Funktionsniveaus
Das DSM ist also eine reine Symptom-Checkliste geworden, bei der erfasst wird, an welchen Symptomen der Patient leidet und seit wann. In seiner neuen Fassung von 2013 unterscheidet das DSM-V die einzelnen Formen der affektiven Störungen nach ihrer Dauer, nach dem Zeitpunkt des Auftretens und den vermuteten Ursachen:
- Bei Kindern bis zu 12 Jahren kann seit 2013 eine „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ (DMDD) diagnostiziert werden. DMDD ist die diagnostische Einordnung für hoch impulsive und emotional dysregulierte – also extrem schwierige – Kinder. Die Symptome schwanken stark zwischen schweren Wutausbrüchen und des depressivem Rückzug. Laut DSM-V entwickelt sich daraus im weiteren Lebensverlauf meist eine Depression oder Angststörung.
- Die schwere depressive Störung (Major Depressive Disorder) ist die klassische Diagnose.
- Wenn die affektive Störung länger als zwei Jahre (bei Kindern ein Jahr) andauert, wird sie als Dysthymie (Persistent Depressive Disorder) diagnostiziert. Für diese Diagnose wurden zwei Kategorien aus dem DSM-IV zusammengefasst: Chronische Depression oder Dysthymie.
- Schließlich wurde noch die Prämenstruelle dysphorische Störung neu als Diagnosekategorie aufgenommen.
Eine Depression ist gekennzeichnet durch eine generell traurige, leere oder gereizte Stimmung, die mit körperlichen und kognitiven Veränderungen einhergeht, die den Betroffenen in seiner Leistungsfähigkeit signifikant einschränken. Kurz gesagt ändert sich mit der gedrückten Stimmung auch das Denken und diese Veränderung hat körperliche Begleiterscheinungen.
Für die Diagnose einer schweren Depression, müssen folgende Symptome fast täglich und dauerhaft bestehen:
- Gedrückte, depressive Stimmung
- Vermindertes Interesse und Freude an Alltagsaktivitäten
- Erhebliche Gewichtszunahme oder -abnahme (mindestens 5 Prozent, bei Kindern Stillstand des Körpergewichts)
- Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafen
- Psychomotorische Ruhelosigkeit oder Verlangsamung, die auch von außen beobachtbar ist
- Müdigkeit und Energieverlust
- Gefühle der Wertlosigkeit oder starker Schuld
- Konzentrationsstörungen, Schwierigkeiten bei Entscheidungsprozessen
- Wiederkehrende Suizidgedanken oder -handlungen
Die ersten beiden Symptome sind notwendige Bedingung für eine solche Diagnose. Mindestens drei weitere Symptome müssen vorhanden sein, die nicht auf andere medizinische Gründe (z.B. Substanzmissbrauch, körperliche Krankheit) zurückzuführen sind. Zusätzlich muss das Leben im sozialen, beruflichen oder in anderen Bereichen deutlich eingeschränkt sein.[9]
In der Neuausgabe des DSM (2013) kann die Diagnose Depression bereits nach zwei Wochen gestellt werden. Das bedeutet: Wer sich zwei Wochen lang durchgehend schlecht fühlt, wäre ein Kandidat für Psychopharmaka. Und die Krankenkasse müsste die bezahlen. Damit erweitert sich die Gruppe möglicher Patienten um ein Vielfaches. Da außerdem die Ausschlussklausel für Trauer entfiel, wird dieser natürliche Prozess, der in der Regel ein Jahr dauert, pathologisiert. Das DSM-V differenziert immerhin, dass bei Trauer das Gefühl von Leere und Verlust vorherrscht, positive Emotionen aber auch erlebt werden. Diese Stimmungsschwankungen sind typisch für den Anfang eines Trauerprozesses. Depression ist dagegen von stetiger gedrückter Stimmung gekennzeichnet.
Kritik am DSM
Die Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie hat denn auch erhebliche Bedenken bei der Neuauflage des DSM[10]. Das gilt insbesondere für die Einführungen neuer Krankheitsdiagnosen und für die Verschiebung von diagnostischen Grenzen zwischen „krank“ und „gesund“ (im Sinne einer Ausweitung psychischen Krankseins) Die Gesellschaft befürchtet, dass durch die Zunahme „leichter, bisher nicht als behandlungsbedürftig angesehener, neuer Diagnosen“ weniger Behandlungsmöglichkeiten „für die schwer psychisch Kranken zur Verfügung stehen werden, jedenfalls solange die verfügbaren finanziellen und personellen Ressourcen nicht erweitert werden … “ (ibid., S. 4)
Der SPIEGEL schrieb in seiner Ausgabe 4/2013, dass 70 Prozent der aktuellen DSM-Autoren als bezahlte Berater für die Pharmaindustrie arbeiten. Die Pharmaindustrie betrachtet Depression als chemisches Ungleichgewicht im Gehirn, das mit Medikamenten behandelbar ist. Substanzen, die in den Serotonin-Haushalt eingreifen, verschaffen Linderung bei Depressionen. Daher erklärte die Pharmaindustrie Depression als Serotonin-Stoffwechselstörung und produziert entsprechende Medikamente, die einen erklecklichen Profit abwerfen. Zudem sind Medikamente wesentlich schneller und leichter einsetzbar als Psychotherapie – Tabletten gibt es in unbegrenzter Anzahl, Therapeuten nicht.
Die zugrunde liegende Hypothese, dass Depression oder andere seelische Krankheiten nur auf einem Ungleichgewicht im Gehirn beruhen, ist allerdings nicht bewiesen. Wie der Spiegel in seiner Ausgabe 49/2013 schreibt: „Der gleichen Logik folgend könnten man aus der Tatsache, dass Alkohol soziale Hemmungen lindert, schlussfolgern, dass Schüchternheit eine Folge von Alkoholmangel wäre.“ (S. 142)
Burnout und Depression
Kernsymptome im Burnout sind nach Matthias Burisch[11] emotionale Erschöpfung, subjektiver Leistungsabfall und die sogenannte Dehumanisierung, d.h. eine negative, aggressive Einstellung zu Mitarbeitern, Kunden, Kollegen und anderen Menschen.
Die Symptome von emotionaler Erschöpfung und subjektivem Leistungsabfall finden sich im Burnout und in der Depression. Bei einer Depression jedoch herrschen Gefühle von eigener Wertlosigkeit, Schuld und Leere vor, die oft in starkem Kontrast mit der neutralen oder positiven Wahrnehmung anderer stehen: „Obwohl ich gar nichts mehr zustande bringe, hält mein Mann zu mir. Ich habe das nicht verdient. Er ist einfach ein guter Mensch.“ Die Dehumanisierung im Burnout macht sich dagegen in Sarkasmus, Zynismus und in der Abwertung anderer Menschen bemerkbar: „Was für ein Idiot. Auf niemand kann man sich verlassen.“
Frei nach Eric Berne (Transaktionsanalyse, „Spiele der Erwachsenen“[12]) könnte man sagen: Depression heißt „Ich bin nicht okay – andere Menschen schon“, Burnout bedeutet oft „Ich bin nicht okay – du bist aber auch nicht okay“.
Burnout ist ein Prozess, der in Phasen verläuft. Niemand wacht morgens auf und hat plötzlich Burnout. Matthias Burisch beschreibt folgende Phasen:
1. Anfangsphase: Engagement, überhöhter Energieeinsatz, Erschöpfung
2. Reduziertes Engagement: für Kunden, Kollegen, für andere Menschen, für die Arbeit. Innere Kündigung
3. Suche nach Schuldigen: niedergeschlagene, reizbare Stimmung
4. Abbau der Motivation: Dienst nach Vorschrift. Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit. Abbau der Kreativität und des differenzierten Denkens
5. Emotionale und geistige Verflachung: emotionale Leere, sozialer Rückzug
6. Psychosomatische Reaktionen: Herz-Kreislauf, Magen-Darm, Muskelverspannungen, Schmerzen, geschwächtes Immunsystem
7. Existenzielle Verzweiflung: Hoffnungslosigkeit, Depression, Suizidgedanken
In der letzten Stufe des Burnout-Prozesses finden wir also explizit die Depression wieder. Für Betroffene ist das allerdings irrelevant – sie leiden subjektiv sehr, und es wird ihnen egal sein, ob das unter dem Etikett Depression oder Burnout stattfindet.
Es gibt allerdings einen entscheidenden politischen Aspekt: Anders als Depression gilt Burnout nicht als Krankheit, d.h. als klassifizierbare psychische Störung nach DSM oder ICD. Wenn Burnout als psychische Störung gelten würde, hätte das wahrscheinlich bemerkenswerte berufspolitische und volkswirtschaftliche Auswirkungen.
Woher kommt Depression?
Nachdem depressive Patienten jahrzehntelang entweder mit Psychopharmaka, Elektroschocks oder langwierigen und oft wenig wirksamen Psychotherapien behandelt wurden, gab es in den 70er Jahren einen Pradigmenwechsel in der Behandlung der Depression. Martin Seligman, amerikanischer Psychologieprofessor, entwickelte die Theorie der erlernten Hilflosigkeit und leitete daraus ein wirksames Konzept zur Behandlung der Depression ab, das heute breit angewendet wird.
Grundlage waren Seligmans Tierversuche. Hunde, die wiederholt schmerzhaften Reizen ausgesetzt waren, denen sie nicht entfliehen konnten (die Tiere waren im Käfig eingesperrt) gaben schließlich ihre Fluchtversuche auf und verhielten sich ab dann passiv und hilflos. Das Tragische daran war, dass selbst, wenn die Tür des Käfigs später offen stand, die Tiere nicht mehr reagierten. Sie blieben im Käfig[13].
Seligman übertrug dieses Modell der erlernten Hilflosigkeit[14] auf den Menschen, der eine Depression entwickelt. Wenn ein Mensch wiederholt die Erfahrung macht, dass das, was er tut, nichts bewirkt, dann kann er eine Haltung der Hilflosigkeit entwickeln. Entscheidend ist dabei die sogenannte interne Attribution, d.h. was der Betreffende über die Ursachen für das erlebte Problem glaubt.
Nehmen wir das Beispiel, dass sich jemand an der Kasse vordrängelt und man selbst momentan so perplex ist, dass man nicht reagieren kann. Person A erklärt sich das damit, dass sie eben von anderen immer übersehen wird, dass niemand sie wahrnimmt und dass sie das auch nicht ändern kann. Person B denkt dagegen: „Nun ja, vielleicht hatte der andere es sehr eilig und hat gar nicht gemerkt, dass er sich vordrängelt. Ich übersehe ja manchmal auch Dinge in der Alltagshektik.“ Das sind zwei fundamental unterschiedliche Attributionen. Die zweite schützt eher vor depressiven Verstimmungen.
Für die Ursachenzuschreibung gibt es drei Dimensionen: internal – external, generell – spezifisch, permanent – zeitlich variabel.
Erlernte Hilflosigkeit ist mit einem spezifischen Attributionsstil bei problematischen Erfahrungen verbunden:
internal: Man sieht das Problem in oder bei sich selbst und nicht in den äußeren Umständen.
generell: Man sieht das Problem als allgegenwärtig und nicht auf bestimmte Situationen begrenzt.
permanent: Man sieht das Problem als unveränderlich und nicht als vorübergehend.
Die kognitive Verhaltenstherapie als nachweislich wirksame Form der Behandlung von Depression zielt darauf ab, diese negativen Ursachenzuschreibungen und destruktive Gedankenschleifen zu identifizieren und zu verändern und generell inneren Abstand zu den eigenen Gefühlen aufzubauen. Dafür lassen sich viele Techniken aus dem NLP nutzen, z.B. Reframing, Sleight of Mouth, inneren Abstand gewinnen durch Meta-Perspektive, Dissoziationstechniken usw.
Ansatz der Positiven Psychologie
Nach vielen Jahren der Depressionsforschung und -behandlung sagte Martin Seligman, dass nicht mehr depressiv zu sein nicht gleichzusetzen sei mit Glück[15]. Ebenso wie Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit, ist psychisches Wohlbefinden mehr als die Abwesenheit von Depression.
Kurz vor der Jahrtausendwende rief Seligman die Positive Psychologie als neues Forschungsgebiet der akademischen Psychologie aus: In seiner Ansprache[16] zu Beginn seiner Amtszeit als Vorsitzender der Amerikanischen Vereinigung der Psychologen, forderte er, dass sich die Psychologie wieder auf ihr Geburtsrecht besinnen und erforschen sollte, was Menschen glücklich macht und was zu positiven Beziehungen, persönlicher Leistungsfähigkeit, innerem Wachstum und gesellschaftlicher Entwicklung beiträgt.
Durch seine Bekanntheit und seinen Einfluss trug er dazu bei, dass sich seither ein neues Forschungsfeld entwickelt hat. Es liefert starke wissenschaftliche Belege dafür, warum es sinnvoll ist, positive Emotionen zu fördern, persönliche Stärken zu erkennen und zu nutzen, und positive Kommunikation in Familie, Schule und Beruf zu unterstützen. Die Positive Psychologie liefert dafür überzeugende Modelle, Konzepte und vor allem wirksame Interventionen, die ideal mit anderen Methoden der humanistischen Psychologie vereinbar sind.
Die Positive Psychologie ist in Amerika, England und Australien bereits weit verbreitet und wird auch in Psychotherapie, Coaching, Schule und Wirtschaft eingesetzt. Im deutschsprachigen Raum bekommt diese erfreuliche Entwicklung zunehmend Rückenwind. In meiner Dissertation an der Freien Universität Berlin untersuche ich aktuell die langfristige Auswirkung von Kursen mit Methoden der Positiven Psychologie auf Depressivität und Burnout-Risiko einerseits und auf Lebensfreude und Lebenszufriedenheit andererseits. Dabei zeigt sich schon jetzt ein deutlicher Effekt.
Seligman war 2010 und 2011 schon in Deutschland und wird zusammen mit anderen weltbekannten Forschern der Positiven Psychologie in einer Kongressreihe im Sommer 2014 in Berlin, Rosenheim und Graz zu hören sein. Um den Nutzen der Methoden der Positiven Psychologie vor allem auch im angewandten Bereich bei Coaches, Therapeuten und Führungskräften bekannt zu machen, wurde 2013 der Deutschsprachige Dachverband für Positive Psychologie (DACH-PP e.V.[17]) gegründet[18].
Aufblühen statt Verkümmern
Bereits 1948 definierte die WHO Gesundheit als vollständiges physisches, geistiges und soziales Wohlbefinden. Die Positive Psychologie liefert nun wissenschaftlich begründete Erkenntnisse, die zeigen, warum eine eindimensionale Diagnose Depression nicht sinnvoll ist.
Das DSM und das ICD beschreiben Symptome psychischer Störungen und sehen dabei nur die Achse „gesund vs. krank“. Wesentlich sinnvoller ist es, noch eine zweite Achse zu betrachten: „verkümmern vs. aufblühen“. Dieses zweidimensionale Modell psychischer Gesundheit wurde von Corey Keyes[19] formuliert und es harmoniert sehr gut mit lang bewährten zentralen Modellen im Bereich des psychischen Wohlbefindens, z.B. dem Konzept der fully functioning person nach Carl Rogers und der Selbstaktualisierung nach Maslow.
Psychisch gesunde und leistungsfähige Personen zeichnen sich nach Keyes aus durch
- Emotionales Wohlbefinden: positive Gefühle und Lebenszufriedenheit
- Psychologisches Wohlbefinden: Selbstakzeptanz, positive Beziehungen, Selbstbestimmtheit, Selbstwirksamkeit, relevante persönliche Ziele und persönliches Wachstum
- Funktionales soziales Wohlbefinden: soziale Akzeptanz, Beitrag zur Gemeinschaft, soziale Integration
Nach einer Studie von Keyes mit über 3000 Amerikanern zwischen 25 und 75 Jahren (2002) lebten nur etwa 17 Prozent in einem Zustand des „Aufblühens“ (Flourishing), in dem sie weitestgehend ihr volles Potenzial verwirklichen. Etwa 60 Prozent der Stichprobe lagen im Mittelfeld („moderate psychische Gesundheit“). 12 Prozent fanden sich am anderen Ende des Kontinuums in einem Zustand des „Verkümmerns“ (Languishing) und zeigten sehr geringes Wohlbefinden.
Das bedeutet, dass von zehn Erwachsenen nur zwei auf einem Level der optimalen psychologischen Leistungsfähigkeit leben (Aufblühen). Von den verbleibenden acht Erwachsenen sind im Schnitt zwei klinisch depressiv und sechs mehr oder weniger zufrieden in ihrem täglichen Leben, bewegen sich aber auf einem deutlich niedrigeren „Flourishing“-Niveau als sie es könnten.
Das Risiko für eine schwere Depression lag bei Personen im Zustand des „Verkümmerns“ doppelt so hoch wie bei den moderat psychisch gesunden und sechsmal so hoch wie bei den Personen im Flourishing. Auch unter klinisch diagnostizierten depressiven Patienten gibt es Flourishing, allerdings in geringerem Umfang als bei nicht-depressiven Erwachsenen.
Weltweit stehen Depressionen in Ländern mit mittlerem oder hohem Einkommen an erster Stelle der Krankheitslast (WHO 2008). Sowohl individuell als auch gesellschaftlich betrachtet, stehen wir deshalb heute vor der Aufgabe, wirksame Methoden zu entwickeln und flächendeckend einzusetzen, damit mehr Menschen in einem Zustand des psychologischen Wohlbefindens leben können. Das wäre nicht nur subjektiv ein Fortschritt (im Sinne des Aufblühens des Einzelnen), sondern würde sich über ein Wachstum an Motivation und Leistungsfähigkeit auch ganz konkret in der Arbeitswelt auswirken. Es wäre wünschenswert, dass Politik und Wirtschaft sich dieser Einstellung anschließen.
Welche Ansätze bietet die Positive Psychologie zur Linderung einer Depression?
Zahlreiche Studien der Positiven Psychologie belegen, wie einfache, alltagsnahe Übungen helfen, das persönliche Wohlbefinden zu steigern. Diese Interventionen nutzen Gesunden und Patienten mit depressiver Symptomatik gleichermaßen. Die Interventionen der Positiven Psychologie zeichnen sich durch ihre Einfachheit, Kürze und Alltagstauglichkeit aus. Es geht dabei letztlich darum, neue Denk- und Erlebens-Gewohnheiten aufzubauen, die dann langfristig helfen, mehr positive Emotionen wahrzunehmen. Das lindert einerseits bestehende depressive Symptome und schützt andererseits vor dem Auftreten einer Depression.
Stark depressive Patienten sollten täglich auf einer Website drei positive Dinge eintragen, die an diesem Tag geschehen waren (z.B. “meine Freundin hat mich angerufen“, “ich habe ein Kapitel eines Buches gelesen“, “die Sonne schien“). Die Patienten, die vorher zum Teil aufgrund ihrer depressiven Symptomatik das Bett nicht verlassen konnten, führten diese Übung zwei Wochen lang durch. Danach erlebten 94% von ihnen eine deutliche Linderung ihrer Symptomatik. Dieser Unterschied zwischen der Gruppe und einer Kontrollgruppe war noch 6 Monate später nachweisbar.
Evolutionär gesehen haben (laut Seligman) die Vorsichtigen und Ängstlichen unter unseren Vorfahren überlebt, denn sie sind in der Höhle geblieben, wurden nicht vom Säbelzahntiger beim Gänseblümchen-Bewundern erwischt und konnten so ihre Gene weitergeben. Vielleicht ist uns Vermeidung, Vorsicht und Pessimismus genetisch in die Wiege gelegt und deshalb ist es besonders wichtig, dass wir uns mental bewusst umstellen, um die positiven Erfahrungen in unserem Leben wahrzunehmen.
In 3 Kästen mit den dazugehörigen Illustrationen
Positiver Tagesrückblick
Schreiben Sie eine Woche lang jeden Abend drei positive Dinge auf:
- Was war heute positiv?
- Warum war das positiv?
- Wie habe ich dazu beigetragen?
Beobachten Sie, wie sich Ihre Stimmung dadurch ändert.
Auf Youtube können Sie in einer Reihe von Videos mehr über diese und weitere Übungen der Positiven Psychologie erfahren: www.positivepsychologie.eu/Uebungen/10-Wege-zum-Glueck-mit-Daniela-Blickhan
Dankbarkeit
Nehmen Sie sich einmal in der Woche Zeit für die Frage: Wofür bin ich in meinem Leben dankbar? Schreiben Sie Ihre Gedanken auf. Im Unterschied zum positiven Tagesrückblick, der als tägliches Ritual empfohlen wird, wirkt diese Übung am besten, wenn sie einmal pro Woche durchgeführt wird.
Jemandem helfen („Acts of Kindness“)
Kurzfristig steigert es das Wohlbefinden am meisten, wenn man einem anderen Menschen hilft. Die Pfadfinderweisheit „Jeden Tag eine gute Tat“ hält langfristig psychisch gesund! Sei es, dass man an der Kasse jemandem mit Kleingeld aushilft, einem Kind Lernstoff erklärt oder einer alten Dame beim Einkaufen hilft. Also: Finden Sie eine neue und für Sie ungewöhnliche Sache, wie Sie morgen nett zu jemandem sein können/ jemandem helfen können. Beobachten Sie, wie sich Ihre Stimmung dadurch ändert.
Daniela Blickhan
Diplom-Psychologin, studierte Positive Psychologie in London und promovierte an der FU Berlin. Sie ist seit 2013 erste Vorsitzende des Deutschsprachigen Dachverbands für Positive Psychologie DACH-PP e.V. Seit 1991 leitet sie das Inntal Institut mit verschiedenen Standorten in Deutschland.
[1] OECD. (2013). Health at a Glance 2013: OECD Indicators
[2] Alle Zahlen in diesem Abschnitt nach Müters, S., Hoebel, J., & Lange, C. (2013). Diagnose Depression: Unterschiede bei Frauen und Männern. GBE kompakt, Robert Koch-Institut, 4(2).
[3] Terrence Real – Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen, Scherz 1999
[4] Müters, S., Hoebel, J., & Lange, C. (2013). Diagnose Depression: Unterschiede bei Frauen und Männern. GBE kompakt, Robert Koch-Institut, 4(2).
[5] American Psychiatric Association. DSM 5. American Psychiatric Association, 2013.
[6] World Health Organization. (1993). The ICD-10 classification of mental and behavioural disorders: diagnostic criteria for research. World Health Organization.
[7] Quelle: DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2014/block-f30-f39.htm
[8] Quelle: DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2014/block-f30-f39.htm
[9] Quelle: DSM 5. American Psychiatric Association, 2013.
[10] Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Wann wird seelisches Leiden zur Krankheit? Zur Diskussion um das angekündigte Diagnosesystem DSM-V
[11] Burisch, M. (2009). Das Burnout-Syndrom: Theorie der inneren Erschöpfung (4th ed.). Heidelberg: Springer.
[12] Berne, E., & Wagemuth, W. (2011). Spiele der Erwachsenen: Psychologie der menschlichen Beziehungen (12. Aufl). rororo rororo-Sachbuch: Vol. 61350. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl.
[13] Heute würden ethische Richtlinien solche Versuchsanordnungen übrigens einschränken bzw. verhindern.
[14] Martin E. P. Seligman (1979). Erlernte Hilflosigkeit. München, Wien, Baltimore: Urban und Schwarzenberg.
[15] Seligman, M. E. P. (2011) Flourish – Wie Menschen aufblühen: Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens
[16] Seligman, M. E. P. (1998). The president’s address. American Psychologist, (54), 559–562.
[17] www.dach-pp.eu
[18] Siehe auch den Newsteil dieser Ausgabe des KS-Magazins, S. XX.
[19] Keyes, C. L. M., & Haidt, J. (Eds.). (2003). Flourishing: Positive psychology and the life well-lived (1st ed.). Washington, DC: American Psychological Association.